«Ich kann nicht alles ändern, aber ich kann zumindest etwas tun»

Interview mit Hans Melliger, Leiter Jugendanwaltschaft

Wann kommt das Jugendgericht zum Zug?

Bei schweren Fällen, also wenn aufgrund der Tat eine Unterbringung, eine Busse über CHF 1000 oder eine Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten in Betracht gezogen werden muss oder wenn ein von uns erlassener Strafbefehl angefochten wird.

Wird bei einem Urteil die Gesamtsituation der Jugendlichen betrachtet?

Ja, im Jugendstrafrecht ist der rechtliche Teil weniger entscheidend als die persönliche Situation der betroffenen Jugendlichen. Das Jugendstrafgesetz normiert, dass der Schutz und die Erziehung der Jugendlichen für die Anwendung der Gesetze wegleitend sind und die Lebens- und Familienverhältnisse sowie die Persönlichkeitsentwicklung besonders zu beachten sind.

Strafen und Massnahmen müssen also unter dem Thema Schutz vor Fehlentwicklung oder Abgleiten in schlechte Bahnen und im Hinblick auf eine gute Entwicklung, Integration und Förderung erfolgen. Man verspricht sich davon mit Blick auf eine Rückfallvermeidung mehr als von einem reinen Abstrafen der Tat.

Solche Urteile zu fällen, ist schwierig?

Ja. Wir sind gefordert, Massnahmen anzuordnen, die auch tatsächlich vollzogen werden können. Da wir selbst für den Vollzug verantwortlich sind, können wir reagieren, wenn etwas nicht umsetzbar ist. Wir haben hierfür die Kompetenz, die eingeleiteten Massnahmen abzuändern.

Wie unterscheiden sich Jugend- und Erwachsenenstrafrecht?

Das Jugendstrafrecht ist ein «Täterstrafrecht». Das heisst, man versucht, direkt mit Sanktionen den Täter zu ändern. Das Erwachsenenstrafrecht ist ein «Tatstrafrecht», wo die Tat im Fokus steht. Man hofft, über die Strafe auf den Täter einzuwirken.

Wir haben im Jugendstrafrecht auch keine Strafrahmen. Der Strafenkatalog ist für unter 15-Jährige sehr eingeschränkt, man kann nur Verweise aussprechen und als Strafe eine persönliche Leistung oder einen Kurs von 10 Tagen anordnen. Man darf ihnen von Gesetzes wegen auch keine Busse geben, was viele nicht wissen und manchmal sogar Polizisten bei den Ordnungsbussen vergessen. Freiheitsstrafen gibt es bis zum Alter von 15 Jahren nicht, was ich sehr gut finde. Der langfristige Nutzen dieser Regelung ist nach aussen aber sehr schwierig zu vermitteln und wir werden leider oft als Kuscheljustiz betitelt.

Was ist der langfristige Nutzen?

Mit Freiheitsstrafen reisst man in bestimmten Fällen Jugendliche aus ihrem Umfeld und bringt sie unter Umständen in ein Milieu, dass sie auf falsche oder noch schlechtere Bahnen bringt. Es ist im ausgewählten Einzelfall weitsichtiger, im gewohnten Umfeld Massnahmen zu vollziehen. Das Jugendstrafgesetz schreibt auch vor, dass nicht mehr als nötig in das Privatleben der Jugendlichen und deren Eltern eingegriffen werden darf. Wir kennen zum Beispiel den bedingten Verweis, ein geniales Mittel für den Umgang mit Jugendlichen.

Was heisst das genau?

Der bedingte Verweis gilt, quasi als Verwarnung, für eine gewisse Zeit. In diesem Zeitraum müssen die miteinander vereinbarten Auflagen erfüllt werden. Das können regelmässige Schulbesuche, die Rückzahlung des Schadens, die Abgabe einer bestimmten Anzahl Urinproben und vieles mehr sein. Werden diese Auflagen nicht erfüllt, kann die Jugendanwaltschaft eine ganz andere Strafe verhängen. Dieses Vorgehen ist im Sinne der Jugendlichen und Eltern, welche es in der Regel gut finden, dass die Auflagen ihre Erziehungsarbeit unterstützen. Wenn die Eltern sehen, dass nicht das harte Erwachsenenstrafrecht greift, sondern wir eine langfristige Lösung und Verbesserung suchen, ist die Zusammenarbeit für die Umsetzung meistens sehr gut.

Die Geschädigten haben hingegen oft Mühe mit dieser in ihren Augen weichen Bestrafung. Wenn ein Opfer nach einem Angriff vier Tage im Spital liegt und der Täter als Strafe während drei Tagen gemeinnützige Arbeit verrichten muss, ist das aus Sicht des Opfers nicht verhältnismässig. Für den Jugendlichen hingegen ist jede Strafe zu hart. Die Täter und ihre Familien finden es immer zu viel und die Opfer haben immer das Gefühl, es sei zu milde. Dieser Spagat bei der Urteilsfindung ist sehr schwierig.

Wenn wir aber einen der schwierigen Fälle mit unseren Massnahmen und Auflagen besser integrieren und weniger gefährlich machen, ist das ein Stück weit Opferschutz, weil es auch weniger Opfer gibt.

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