Der Mensch steht im Mittelpunkt

Interview mit Ruedi Bürgi, Oberrichter am Obergericht des Kantons Aargau

Und wie wird die Strafe für den Beschuldigten festgelegt?

Bei jedem Delikt geht es darum, das individuelle Verschulden der Täterin resp. des Täters zu bestimmen. Ein Diebstahl ist also nicht einfach ein Diebstahl, der immer gleich bestraft wird, um ein einfaches Beispiel zu nehmen. Die Strafe bemisst sich nach dem Sachverhalt, der verwirklicht wurde, wie auch nach den in der Person liegenden Umständen. Was wurde gestohlen? Welchen Deliktsbetrag macht es aus? Wie ging die Täterin resp. der Täter vor: Raffiniert? Mit grosser Planung? Oder war es ein Diebstahl nach dem Motto: Gelegenheit macht Diebe? Welche Motive leiteten die Täterschaft? Kam es zur Vollendung des Diebstahls oder blieb es beim Versuch? Wurden mehrere Delikte begangen? Waren es mehrere Beteiligte, die zusammen eine Bande bildeten? Wie stellt sich die Täterin resp. der Täter zum Delikt: Wird die Tat zugegeben? Macht die Täterin resp. der Täter das Geständnis von sich aus oder bloss aufgrund der erdrückenden Beweislage? Besteht Einsicht und Reue? Wird der Schaden wieder gutgemacht? Hat die Täterin resp. der Täter bereits früher Delikte begangen, bestehen also Vorstrafen? Wo steht die Täterin resp. der Täter im Leben? Wie sehen die persönlichen Verhältnisse aus?

Dies sind alles Elemente, die einzeln geprüft werden und schliesslich als Gesamtheit der Umstände zur Festlegung der Strafe führen, die dem eigenen Verschulden entsprechen

Das wird zu dritt entschieden?

Ja, am Obergericht immer, während an den Bezirksgerichten im Kanton Aargau als erste Instanz in Fällen, in denen eine Strafe von nicht mehr als einem Jahr beantragt wird, die Präsidentin resp. der Präsident als Einzelrichterin resp. als Einzelrichter entscheidet. Wie oben schon ausgeführt, gehört zur Gerichtsbesetzung auch die Gerichtsschreiberin resp. der Gerichtsschreiber mit beratender Stimme. Auf ihren Einbezug bei der Beratung lege ich persönlich grossen Wert. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass Ihre Meinung im Prozess der Urteilsfindung regelmässig eine wesentliche Bereicherung darstellt. Ihre Stellung hat sich im Vergleich zu früheren Zeiten, als Gerichtsschreiber vor allem Verhandlungen protokollierten, markant geändert.

Der Entscheid in einem Gremium hat im Übrigen immer den Vorteil der offenen Diskussion und der Meinungsvielfalt für sich. Häufig werden die sich stellenden Fragen aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus angeschaut, gewertet und beantwortet. Ebenso verteilt die Arbeit im Gremium auch die Verantwortung auf verschiedene Schultern.

Entgegen landläufigen Meinungen, dass man sich bei den allermeisten Urteilen einig ist im Entscheid, kommt es mit immer wieder vor, dass im Hauptpunkt oder in Nebenpunkten verschiedene Meinungen vorhanden sind. Daran sieht man anschaulich, dass Richten keine exakte Wissenschaft ist, sondern immer eine Annäherung an die Wahrheit und die Gerechtigkeit ist.

Wer bestimmt die Dreierbesetzung?

Es gibt verschiedene Zuteilungssysteme. Während an anderen Orten der Präsident des Gerichts die Fälle an die einzelnen Richterinnen und Richter zuteilt, gibt es im Kanton Aargau seit Jahrzehnten ein sog. Punktiersystem, welches Grundlage für die Verteilung der Arbeit bildet. Der Vorteil liegt in der Unabhängigkeit, dass schon die Gefahr gebannt ist, dass Gerichtsbesetzungen willkürlich zusammengestellt werden.

Müssen Richterinnen resp. Richter einer Partei angehören?

Ja, die Oberrichterwahl ist auch traditionell eine politische Wahl, da diese durch den Grossen Rat erfolgt und dort auf die zumindest ungefähre proportionale Verteilung der Richtersitze gemäss dem aktuellen politischen Proporz und damit auf die Parteizugehörigkeit geachtet wird. Die Wahl der erstinstanzlichen Richterinnen und Richter, also an eines der Bezirksgerichte, erfolgt durch das Volk, und je länger desto mehr haben auch Parteilose in Volkswahlen eine reelle Chance. Dies ist eine spannende Entwicklung sowohl in Bezug auf die Ämterverteilung als vor allem auch auf die Selektion zur Gewährleistung der Qualitätsansprüche, die an die Richterinnen und Richter gestellt werden.

Gibt es Dinge, die Ihnen an Ihrer Arbeit nicht gefallen?

Mir gefällt mein Beruf sehr gut, weshalb es hierzu herzlich wenig zu sagen gibt. Richterin resp. Richter Sein ist eine tolle und erfüllende Tätigkeit. Wenn ich mir etwas wünschen würde, dann wäre es, dass etwas mehr zeitliche Ressourcen zur Verfügung stehen würden. Dann wäre der dauernde Erledigungsdruck etwas geringer und wir hätten für die Arbeit an den einzelnen Fälle mehr Zeit. Vor allem würde dann auch für den eigentlichen Umgang mit den Parteien und damit mit den betroffenen Menschen mehr Raum bestehen.

Ist Ihr Beruf von den gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig?

Die Gesetze sind Ausdruck der gesellschaftlichen Werte, geben ein Abbild, was der Gesellschaft wichtig, was grundlegend ist für das Individuum und auch für das Zusammenleben in der Gemeinschaft. Solche Werte sind z.B. die freie Entfaltung der Menschen, die Gesundheit, die Sicherheit, der Schutz der menschlichen Würde, aber auch die Mitwirkung im politischen, demokratisch geordneten Prozess, in der Gestaltung der Regeln, wie wir als Gesellschaft funktionieren wollen. Das Gericht wiederum ist an diese Regeln, die in den Gesetzen ihren Niederschlag finden, gebunden, hat diese anzuwenden und die Normen auszulegen, wie sie dem Sinne des Gesetzgebers und ihrem Zweck entsprechen. Er hat also in seinen Entscheiden nachzuvollziehen, was Ausfluss der Gesetze ist. Das ist die in diesem Sinn zu verstehende konservative Seite an der richterlichen Tätigkeit, während die konkreten Anwendungsfälle auch immer Raum für schöpferische und kreative Lösungen bietet.

Als leise Kritik kann angemerkt werden, dass heute in der Gesellschaft resp. in vor allem durch politische Exponenten etwas gar schnell die Forderung nach der Schaffung neuer Gesetze gestellt wird, z.B. ausgelöst durch ein besonders schweres Verbrechen. Da wäre es oft besser, neue Regelungen mit Bedacht zu wählen bzw. zu hinterfragen, wie breit das Ermessen der bestehenden Regelungen bereits ist.

Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die mit der Auslegung der Gesetze in Zusammenhang stehende Praxis der Gerichte. Jede Instanz und jedes Gericht hat einen gewissen Anwendungsspielraum. Am Wichtigsten ist dabei die Rechtsprechung des Bundesgerichts, welches in vielen Fragen den Massstab und die Leitlinien vorgibt. Daran haben sich die unteren Instanzen zu halten. Auch diese Entscheide sind Ausdruck von gesellschaftlichen Entwicklungen. Gerade im Strafrecht geht es häufig um eine konsequentere Ahndung von bestimmtem Fehlverhalten oder um die Art der Sanktionierung.

Ein Beispiel?

In den siebziger und achtziger Jahren wurde bei der Bestrafung von Straftaten der Besserung der Täter und deren Wiedereingliederung in die Gesellschaft ein verstärktes Gewicht beigemessen. Das entsprach dem damaligen Zeitgeist, Heilung vor oder zumindest gleichwertig neben Vergeltung und Abschreckung zu setzen. Mit dem sog. Mord am Zollikerberg an der Pfadiführerin Pasquale Brumann im Jahr 1993 begann eine Kehrtwende, indem der Forderung in erster Linie nach mehr Sicherheit und damit auch nach härteren Strafen und rigiderem Vollzug Nachdruck verliehen wurde. Dieses Ereignis war Auslöser einer bis heute anhaltenden in der Gesellschaft spürbaren Entwicklung und hatte konkreten Niederschlag auf die Rechtsprechung und die Gesetzgebung.

Immer wieder wird der Ausdruck „Kuscheljustiz“ verwendet, der in abwertender Form eben diesen veränderten Zeitgeist widerspiegelt.  Heute prägen gegenläufig Stichworte wie „Sicherheit“ und „Nulltoleranz“ die Diskussion.

Wie stehen Sie persönlich dazu?

Der Ruf nach immer härteren Strafen verkommt irgendwann zu eher populistischen Forderungen. Mein Bestreben war immer, einen angemessenen Ausgleich zwischen den verschiedenen Strafzwecken, zwischen Repression und Prävention, zwischen der Sühne des Täters für ein von ihm begangenes Delikt, der Abschreckung und Vergeltung und der Besserung und Heilung des Täters mit dem Ziel der Wiedereingliederung zu finden. Das Wort „Rache“, welches vor allem von Opferseite her häufig Triebfeder bildet und im Vordergrund steht, darf für mich nie eine dominierende und schon gar nicht eine ausschliessliche Stellung einnehmen.

In die gleiche Richtung geht die Tendenz, Täter, deren Taten einen gewissen Krankheitswert offenbaren und die einer Behandlung bedürfen, viel eher als früher wegzusperren. Auch da muss die Verhältnismässigkeit gewahrt bleiben. Der Wunsch nach „Nullrisiko“ kann nicht durch das Strafrecht erreicht werden.

Kann man überhaupt abschliessend beurteilen, ob jemand gut oder böse ist?

Menschen kann man nicht in grundsätzlich gute und böse Menschen unterteilen. Es gibt aber Menschen, die bösere Dinge tun als andere. Ziel von Therapien muss sein, dass diese Menschen ihre schlechten Seiten, die sie in die Delinquenz führen, wenn möglich überwinden, sie zumindest aber lernen, mit ihnen umzugehen, d.h. dass sie in der Lage sind, selbst zu verhindern, dass sie weitere Delikte begehen. Gelingt dies, sollen auch sie wieder die Möglichkeit haben, in Freiheit zu leben. Richtig ist aber, dass die Gesellschaft vor Tätern geschützt werden muss, von denen eine ernsthafte Gefahr für die höchsten Rechtsgüter, also für Leib und Leben, ausgeht.

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