Weshalb haben Sie Ihren Beruf gewählt?
Ich ging zuerst in eine ganz andere Richtung, habe Französisch und Spanisch studiert, weil mir Sprachen sehr gut gefallen. Ich habe aber dann zu den Rechtswissenschaften gewechselt, weil das offen stehende Berufsspektrum mit einem juristischen Abschluss wesentlich breiter ist. Heute, kurz vor der Pensionierung, denke ich, dass mir der Lehrberuf auch sehr gefallen und mich die Arbeit mit jungen Menschen in der Ausbildung auch erfüllt hätte. Aber meine Arbeit als Oberrichter habe ich immer als ein hohes Privileg empfunden und daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Die Arbeit als Richter ist genial und ich würde mich jederzeit wieder dafür entscheiden.
Sie hatten beim Rechtsstudium aber nicht den Beruf des Richters als spezifisches Ziel?
Nein, überhaupt nicht, ich war sehr offen, was meine berufliche Zukunft betraf, Im Jusstudium habe ich erfahren, dass es im Umgang mit dem Recht auch immer um den Umgang mit Ereignissen aus dem Leben, um Menschen geht und dabei das Beobachten, was sich im Leben abspielt, das neugierige Nachforschen und das Einfühlen sowie das Abwägen zwischen Standpunkten immer eine wichtige Rolle spielen. Dazu sind aber auch das logische Denken, der analytische Prozess und das Erkennen von Zusammenhängen ganz wesentlich. Zudem schreibe und formuliere ich gern. Das passt alles zum Richterberuf und wurde dann im Laufe der praktischen Tätigkeit nach dem Studium als Gerichtsschreiber immer mehr zu einem Thema.
In der Schweiz kennen wir aber – im Gegensatz zu Deutschland – keine eigentliche Richterlaufbahn, d.h. man kann nicht planen, einmal Richterin resp. Richter werden zu können. Es sind verschiedene, auch politische Faktoren, die einen Einfluss auf die Vergabe von Richterstellen haben.
Ich hatte damals das Glück, im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein, um als Oberrichter gewählt werden zu können.
Wie war Ihr beruflicher Werdegang zum Oberrichter?
Nach dem Studium und dem einjährigen Anwaltspraktikum habe ich – zusammen mit meinem Bruder, was aussergewöhnlich und eine Supersache war, dass wir zwei dies gemeinsam tun konnten – die Anwaltsprüfung vorbereitet und abgelegt und begonnen, meine Doktorarbeit zu schreiben. Nebenher habe ich als Anwalt gearbeitet. Als ich für einen erkrankten Obergerichtsschreiber eine Stellvertretung am Obergericht des Kantons Aargau antreten konnte, wechselte ich von der Obergerichtsbibliothek, meinem damaligen hauptsächlichen Arbeitsplatz, einen Stock tiefer und nahm später das Angebot für eine Festanstellung zunächst mit einem Teil- und nach Abschluss der Dissertation mit einem Vollpensum an. Damit war meine Tätigkeit am Gericht eingeleitet…… Schon damals betreute ich als Gerichtsschreiber Zivil- und Strafrechtsfälle. Nachdem ich Ende der achtziger Jahre als Leiter Justizverwaltung (heutiger Generalsekretär Gerichte Aargau) gewirkt hatte, wurde ich vom Grossen Rat 1990 zum Oberrichter gewählt.
Gab es im Laufe der Zeit spezielle Highlights?
Ja sicher, da gehören die ganz besonderen und aussergewöhnlichen Fälle dazu, darunter natürlich jene spektakulären Fälle, die Aufsehen erregten und entsprechend auch in den Medien und in der Öffentlichkeit diskutiert wurden, oder jene, die auch für die Rechtsentwicklung von Bedeutung waren wie z.B. der erste sog. „Aids-Fall“, in dem es um die rechtliche Qualifikation der Ansteckung mit dem Virus ging, oder der Fall „Lucie“, bei dem zum erstenmal zweitinstanzlich über die lebenslängliche Verwahrung befunden wurde. Daneben gehören aber auch viele kleine Fälle dazu, bei denen sich aus prozessualen oder materiell-rechtlichen Gründen besonders knifflige Probleme stellten oder bei denen spezielle menschliche Konstellationen der tragischen oder zuweilen auch der komischen Art vorlagen.
Als in ganz anderer Weise besonders spannend habe ich während meiner Gerichtszeit die acht Jahre empfunden, in denen ich zuerst während vier Jahren Vizepräsident des Obergerichts war und dem Gericht darauf während der nächsten vier Jahre als Präsident vorstehen durfte. Ich schätzte die vielfältigen Kontakte mit den anderen Gerichtsbehörden im Kanton wie auch jene mit der Verwaltung und den politischen Behörden ebenso wie die Gestaltung und Entwicklung der Gerichtsorganisation und die Repräsentation der Aargauer Justiz, das Vorstellen und Näherbringen der Gerichte und deren Arbeit als dritte Gewalt. Ich mochte die Mischung aus Führungs- und juristischer Arbeit sehr.
Hätte Ihre Wahl auch auf einen anderen juristischen Beruf fallen können?
Die Berufslaufbahn kann einen an manche Orte verschlagen und rückblickend denke ich, dass ich mich auch als Anwalt wohl gefühlt hätte. Ich schätze mich aber glücklich und bin dankbar dafür, dass ich während all der Jahre eine so erfüllende Aufgabe als Richter ausüben durfte.
Wie reagieren die Menschen in Ihrem privaten Umfeld auf Ihren Beruf?
Die einen sagen „Oooh, zum Glück habe ich ein Gericht nie von innen gesehen und sind wir uns damit noch nie dort begegnet,“, bei den meisten spüre ich aber vor allem einen gewissen Respekt in ihrer Reaktion.
Das zeigt meines Erachtens, dass das Gericht als Autorität anerkannt wird. Es zeigt aber auch, welche Verantwortung wir tragen, um diesen Anforderungen gerecht zu werden.
Was denken Sie über Ihre eigene Arbeit als Richter?
Ich selbst empfinde meine Tätigkeit als durchaus normale Arbeitsstelle, mit einem Arbeitsalltag, wie ihn alle anderen Menschen im Arbeitsleben auch erfahren, zusammen mit den anderen Mitarbeitenden des Obergerichts, also den Mitrichterinnen und Mitrichtern, den Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreibern und den Mitarbeitenden der Kanzlei. Ich beginne meist früh am Morgen, belgeitet von heissem Tee und noch viel Ruhe ringsum, mit den anstehenden Fall- oder adminsitrativen Aufgaben, Der Arbeitstag beinhaltet dann viel Lese- und Schreibarbeit, viel Recherche in den Akten und am Compi, regelmässige Kommunikation untereinander und Diskussionen über zu lösende Fragen. Ich habe wie andere Kolleginnen und Kollegen auch die Bürotüre meist offen, was den wichtigen fachlichen und auch persönlichen Austausch untereinander fördert.
Dass ich – wie die Kolleginnen und Kollegen auch – immer wieder auch über die Bürozeiten hinaus arbeite, stört mich angesichts der spannenden Arbeit nicht, und umgekehrt bestehen, falls nicht fixe Beratungs- oder Verhandlungstermine wahrzunehmen sind, auch gewisse Freiräume in der Arbeitsgestaltung zum teilweisen Ausgleich. Die Verantwortung trage ich, dass ich am Ende der Woche oder des Monats meine zugewiesene Arbeit erledigt habe.
Ist der Gerichtsalltag nicht durch Verhandlungen geprägt?
Die Verhandlungen sind das Salz in der Suppe, es gibt aber am Obergericht längst nicht so viele davon wie an den Bezirksgerichten. Es finden – in wechselnder Besetzung – zur Zeit ca. eine bis zwei Strafverhandlungen pro Woche statt, die jeweils ca. einen halben Tag, zum Teil etwas weniger, zum Teil aber auch mehr in Anspruch nehmen. Die andern Verfahren werden auf schriftlichem Weg erledigt.
Gibt es lustige Geschichten aus dem Gerichtsalltag?
Ja, aus all den Jahren ergibt sich ein Sammelsurium an lustigen oder auch kuriosen Begebenheiten als Erinnerungen, aber auch als Schreiben, Berichterstattungen, Gerichtszeichnungen etc.. Das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen ist sehr unterschiedlich und immer wieder klaffen dieses und die Wirklichkeit markant auseinander. Das führt dann und wann auch zu Situationen, die zum Schmunzeln Anlass geben. Eine Erfahrung ist es auch, dass viele Menschen ihre Sicht in eine Geschichte so hineinprojizieren, dass diese für sie zur subjektiven Wahrheit wird. Dies kann zu tragischen, aber auch lustigen Momenten führen.
Es gibt zum Beispiel eine Person, der ich einmal empfohlen habe, anwaltliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, da sie selbst mit der Sache überfordert war. Sie war so dankbar, dass sie dann begonnen hat, mir regelmässig ungefähr alle 3 – 4 Monate anzurufen hat. Sie redete mich dann jeweils nicht nur mit „Grüezi Herr Oberrichter Herr Doktor Bürgi“ an, sondern wiederholte dies im Laufe des Gesprächs immer wieder, was ich ja sonst eigentlich nicht so mag, wenn mit Titeln um sich geworfen wird, und begann dann in einem Redeschwall immer wieder ihre Geschichte zu erzählen, die sie mit jemandem teilen wollte. Andere Mitarbeitende nahmen ihre Anrufe schon längst nicht mehr entgegen, aber ich habe mir drei bis vier Mal pro Jahre diese jeweils 20 Minuten genommen, um ihr zuzuhören..wie ich auch für andere wenn möglich immer ein offenes Ohr habe, wenn sie ein Anliegen haben. Später brachte sie mir dann einmal eine Flasche Bier aus München mit der Bemerkung, ein solches Geschenk dürfe ich schon annehmen, und irgendwann musste sie dann bei uns am Obergericht in einem Verfahren zu einer Verhandlung erscheinen,. Als sie das letzte Wort bekam, hat sie dieses nicht für eine Erklärung, wie es üblich ist, verwendet, sondern stattdessen dem Gericht den Kriminaltango vorgetragen, was im Gericht zu Verwirrung, aber auch Erheiterung geführt hat.
Dann gab es als anderes Beispiel eine Person, die sich nicht anwaltlich vertreten lassen wollte und ihre rund 400-seitige Berufung selbst von Hand geschrieben hat. Die Verhandlung dauerte dann ebenfalls einiges länger als andere, weil es mir ein Anliegen war, dass der betreffende Beschuldigte einfach einmal alles loswerden konnte und spürte, dass wir auch ihn und seine Sorgen ernst genommen haben.
Und wie verbringen Sie Ihre Freizeit? Ich habe gehört, Sie sind sehr sportlich.
Ja, ich treibe sehr gerne Sport und seit je her habe ich vor allem Freude an allen Sportarten, die mit Bällen zu tun haben, vom Fussball und Tischtennis bis zum Pétanque. Ich war früher in der Leichtathletik und im Handball aktiv und spiele nun vor allem Tennis. Den früheren Handballjahren verdanke ich offenbar ein gutes Ballgefühl und mit der Leichtathletik habe ich mir die nötigen körperlichen Voraussetzungen verschaffen können…..
… was zum Titel „Aargauer Meister“ und der Teilnahme an der Team-WM der Senioren geführt hat?
Das stimmt, den Titel habe ich in meiner Altersklasse gewonnen. Ich durfte tatsächlich fünf Mal mit der Nationalmannschaft an der Team-WM der Senioren teilnehmen. Diese fanden in Südafrika, in Mexiko, in der Türkei, in den USA und in Frankreich statt und bescherten mir unvergessliche Momente in sportlicher, menschlicher und kultureller Hinsicht.
Und wie verbringen Sie die Freizeit, wenn sie keinen Sport treiben?
Ich interessiere mich sehr für Kultur, sei es im Bereich von Kunst, Theater und Film, Fotografie, Literatur etc. Während 12 Jahren durfte ich mich in der Kulturstiftung Pro Argovia im Stiftungsrat engagieren und tat dies sehr gerne. Ich bin ausserdem in der Schulkommission einer Mittelschule und Sekretär bei Öffentliches Personal Schweiz (ZV).
Zudem bin ich gerne unterwegs, mit meist von Doris, meiner Frau, (unter meiner etwas geringeren Mithilfe….) zusammengestellten Reisen in fremden Ländern oder mit dem Besuch von Städten. Neulich haben wir einen Camper gekauft und werden mit ihm auch auf diese Art Europa bereisen. Das Reisefieber, die Freude am Sport und an der Kultur und Natur haben wir offenbar auch unseren beiden Söhnen weitergegeben, denn auch sie sind mit dem Camper und anderswie fleissig unterwegs in der grossen weiten Welt und haben Berufe wie Jonas im grafischen und Luca bisher im sportlichen (Handball) und künftig im sozialen Bereich. Ich bewege mich gerne in der Natur, mag es zu Fuss beim Wandern oder auf dem Velo und ab und zu auch auf den Skis. Und dazu gehören immer auch das Verweilen draussen an der wärmenden Sonne, in den Bergen, am Strand, in einer schönen Beiz mit feinem Essen und einem guten Schluck Wein.
Und schliesslich spiele ich fürs Leben gern, Karten- oder Würfelspiele wie Brändi Dog, Backgammon oder was immer es sein mag ….. und vor allem geht nichts über einen gelungenen Jass.