Wie bereiten Sie sich auf die Verhandlung vor?
Aktenkenntnis ist die Grundlage der guten Vorbereitung. Das Verständnis, worum es geht, und das Erkennen der Zusammenhänge sind hingegen das A und O. Es genügt also nicht, einfach alles durchzulesen, sondern entscheidend ist, ob man sich in die Vorgänge hineinversetzen, sich im Fall zurechtfinden, sich darin „bewegen“, sich vorstellen kann, wie eine bestimmte Tat begangen wurde und wie es dazu kommen konnte, welche Motive Triebfeder waren. Ein Patentrezept gibt es dafür nicht. Manchmal bedarf es der Nachverfolgung sämtlicher Aussagen und Beweismittel. Manchmal genügt es aber auch, die Akten selektiv zu studieren. Dafür braucht es eine gewisse Erfahrung im Umgang mit den Verfahrensakten.
Ebenso wichtig ist jedoch auf der anderen Seite, sich nie mit einem Beschuldigten oder anderen Verfahrensbeteiligten zu identifizieren. Es bedarf immer auch einer gewissen Distanz in der Beobachtung, um die Sache neutral und unabhängig beurteilen zu können.
Den Fall „im Griff zu haben“ ist aber nicht gleichbedeutend mit der Wahrheit auf der Spur zu sein, sondern schafft erst die guten Voraussetzungen dazu. Immer bedarf es der Offenheit und der Neugierde, Neuem Raum zu geben, andere Aspekte einfliessen zu lassen ins Gedankengebilde, das man sich von einem Ablauf in der Wirklichkeit macht. Dazu hilft auch das Bewusstsein, dass es beim Erfassen eines Geschehens im Leben immer bloss um eine Annäherung an die Wahrheit geht.
Die für mich gute Vorbereitung beinhaltet also auf der einen Seite die Gewinnung von möglichst tief gehenden Informationen, die aus den Akten resp. dem Studium der Akten hervorgehen, gepaart mit dem, was ich von der beschuldigten Person und anderen Parteien oder von Zeugen und Gutachtern noch in Erfahrung bringen, von ihnen unmittelbar selbst hören möchte
Beim Lesen der Akten entsteht wohl ein Bild und auch eine vorgefasste Meinung. Führt das auch zu Überraschungen in der Verhandlung?
Das ist genau das, was ich meine mit dem Gedankengebilde, das sich aus dem Gelesenen ergibt, und der Offenheit, die es danach braucht, um Überraschungen, die immer wieder auftauchen, überhaupt Raum zu geben, bemerkt und erfasst zu werden. Wahrheiten, Halbwahrheiten, auch Einbildungen und Lügen sind fragile Dinge, denen gegenüber immer die volle Aufmerksamkeit und Offenheit des Gerichts zwingend erforderlich ist.
Anhand des Aktenstudiums habe ich immer einen Eindruck, was die Hintergründe sein könnten – entweder bestätigt sich dieser durch die Befragungen oder auch nicht. Ziel ist es jedenfalls, dass sich diese Unsicherheiten aufgrund der Befragung klären. Wir versuchen, gestützt auf Aussagen, Indizien, Beweise die materielle Wahrheit herauszufinden. Diese ist aber letztlich- wie vorhin schon bemerkt – immer nur eine Annäherung an die tatsächliche Wirklichkeit, welche immer nur die beteiligten Personen kennen können.
Dieser Vorgang führt zur Prozesswahrheit, also zu demjenigen Sachverhalt, den wir nach bestem Wissen und Gewissen und mit allem möglichen Aufwand herausfinden können.
Was passiert, wenn Sie dann noch immer unsicher sind, wie sich etwas zugetragen hat?
Es gibt gesetzliche Regeln, wie in solchen (doch recht häufigen) Situation zu verfahren ist. Im Strafrecht gilt der Grundsatz „im Zweifel für den Beschuldigten“. Der Staat muss den Nachweis der Täterschaft erbringen. Bleiben an der Tatbegehung Zweifel, die über theoretische Möglichkeiten hinausgehen, so ist die beschuldigte Person freizusprechen. Im Zivilrecht hat in der Regel die klagende Partei den Beweis für das Bestehen des von ihr gestellten Anspruchs zu erbringen. Dies entspricht dem Grundsatz, dass wenn jemand etwas von einer anderen Person einfordert, er den Beweis für das Bestehen des Klagefundaments zu erbringen hat. Wenn sie dies nicht oder nicht genügend kann, wird die Klage abgewiesen und sie verliert den Zivilprozess.
Diese Grundsätze sind für uns zusammen mit den Prozessgesetzen sehr wichtige Hilfsmittel.
Dann sind Sie ein wenig auch ein Ermittler?
Ja und nein…… Die eigentlichen Ermittlungen werden im Ermittlungs- und im Untersuchungsverfahren gemacht. Das Gericht nimmt die wichtigsten Beweise nochmals ab und hat die Aufgabe, sie bei der Urteilsfällung zu würdigen, also den Sachverhalt festzustellen. Dabei schlüpft man schon immer wieder in die Rolle des Ermittlers
Wie gut können Sie sich von Fällen, insbesondere emotionalen, abgrenzen?
In der Regel gelingt mir das gut. Im Strafrecht stellen wir fest, dass jemand ein Delikt begangen hat, und er muss sich dafür einer Strafe unterziehen, auch wenn dies für ihn persönlich in seinem Leben sehr einschneidend ist. Das hat er aufgrund seines Unrechts, das er begangen hat, auch verdient. Hier stehen auch für mich das Handwerk der Richterin resp. des Richters und die Erfüllung meiner Aufgabe im Vordergrund.
Anders ist es bei Delikten, die mit menschlichen Schicksalen und Schicksalsschlägen verbunden sind. Dies trifft vor allem auf der Opferseite zu, wenn Menschen aufgrund von Delikten leiden müssen, ihr Leben auf allenfalls lange Dauer massiv beeinträchtigt wird. Das Gleiche gilt für Fälle wie z.B. oft bei Sexualdelikten, bei denen Aussage gegen Aussage-Konstellationen vorliegen und mangels genügender Beweise die beschuldigte Person freizusprechen ist und die Ungewissheit fortbesteht, ob am Opfer ein Übergriff begangen worden ist. Das Opfer würde solchenfalls durch das Gerichtsverfahren gleich doppelt stigmatisiert wird. Solche Verfahren beschäftigen mich über dann immer wieder über die Arbeitszeit hinaus und bedürfen auch einer gewissen Verarbeitung auch für mich als den Fall beurteilender Richter. Das gehört aber zum Beruf und untrennbar zur ureigenen Aufgabe und Verantwortung, die man dabei trägt.
Was ist Ihnen persönlich als Richter wichtig?
Entscheidend ist, dass die Richterinnen und Richter alle Menschen aus sämtlichen sozialen und bildungsmässigen Gefällen mit allen ihren Stärken und Schwächen ernst nimmt und die Fälle nicht als Nummern betrachtet und sie nach Schema X abarbeitet Als Richterin resp. Richter ist man mit allen möglichen Abgründen des Lebens konfrontiert, mit Widerwärtigkeiten, Launen des Lebens, fiesen „Hörnern“, welche die Menschen tragen, allen tragisch-komischen Seiten, allen Unbehelflichkeiten und Nöten. Da besteht die Gefahr, mit der Zeit etwas zynisch zu werden. Wichtig ist mir, dass ich das Bewusstsein nicht verliere, mich gegen solche oft auch einen Selbstschutz darstellenden Tendenzen zu wehren, und offen bleibe auch für die guten Seiten, die alle Menschen in sich haben.
Die Suche nach der Wahrheit ist aber durch das Gesetz begrenzt?
Im Strafrecht ist man an den Sachverhalt in der Anklage gebunden, aber in der Beweisführung frei, währenddem man im Zivilrecht, wie bereits gesagt, durch die begrenzten Möglichkeiten, vor Obergericht noch neue Tatsachen in den Prozess einzubringen, in der Wahrheitsfindung eingeschränkt ist und die sog. Prozesswahrheit zum Tragen kommt..
Mussten Sie das vorher gemachte Bild eines Falls nach der Verhandlung schon mal total revidieren, trotz aller Offenheit?
Trotz aller Offenheit? Nein, wegen aller Offenheit…. Viele Fälle sind von der Beweislage her nicht eindeutig. Aber dass Verfahren, bei denen man von den Akten her von einem Ergebnis schon überzeugt ist und die Verhandlung dann ein ganz anderes, unerwartetes Bild zeichnet, das die ganze Beweislage umkehrt, ist schon eher selten.
Was sind die grössten Herausforderungen beim Verfassen eines Urteils?
Das Bundesgericht stellt im Strafrechtsbereich immer höhere Anforderungen an die Begründung eines Urteils, damit es in allen Belangen nachvollziehbar ist. Das ist an sich richtig, aber insofern wiederum heikel, als die Gefahr besteht, dass man bei allen Verästelungen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht, die Urteile immer komplizierter werden, damit schwieriger zu lesen sind und von den Beteiligten, die juristische Laien sind, eben gerade nicht mehr verstanden werden. Die Verständlichkeit der Urteile ist im Strafrecht aber meines Erachtens eine Anforderung, auf deren Erfüllung unbedingt zu achten ist. Die betroffenen Personen müssen nach meiner Meinung das Urteil zumindest in seinen Grundzügen immer lesen und verstehen und damit erfassen können, was das Gericht ihnen sagen will. Im Strafrecht muss immer der Mensch im Mittelpunkt stehen.
Welche Fähigkeiten sind als Richter gefragt?
Beim Studium der Akten ist eine genaue und sorgfältige, oft auch akribische und vor allem analytische Arbeitsweise nötig, um den Sachverhalt festzustellen, aber ebenso braucht es psychologisches Verständnis für die handelnden Personen und Einfühlungsvermögen in die Vorgänge. Es ist manchmal wie in einem Krimi – wenn ich am Wochenende zur Vorbereitung mal Akten mit nach Hause nehme, habe ich meiner Familie auch schon gesagt, dass ich vor mir wahrscheinlich den spannenderen Sonntagabend-Tatort habe als sie.
Bei den Befragungen geht es darum zu spüren, ob die Aussagen der Befragten konstant und glaubhaft sind. Oft spürt man heraus, in welche Richtung eine Befragung läuft, aber man muss sich anderseits auch davor hüten, einfach nach dem Gespür zu gehen. Die Beweise müssen immer auch einer bestimmten Systematik folgend und kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden, bevor auf sie abgestellt wird.
Ist der Sachverhalt, also das, was im Leben passiert ist, festgestellt, folgt die rechtliche Würdigung. Man öffnet dann quasi die entsprechende Schublade der rechtlichen Bestimmungen, zum Beispiel jene des Strafgesetzbuches. Da sind dann die juristischen Fähigkeiten des Gerichts gefragt, mit den Gesetzen umgehen zu können. Das fällt manchmal leicht, oft bedarf es aber verschiedenster Wertungen und Auslegungen und der Konsultation von Lehrbüchern und Kommentaren und vor allem der auf den Fall und die sich stellenden rechtlichen Fragen bezogene Rechtsprechung der Gerichte, vor allem jene des Bundesgerichts.