Am März 2023 wurde der Reformvorschlag zur beruflichen Vorsorge (Änderung vom 17. März 2023 des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) nach langem Hin und Her in der Schlussabstimmung im Parlament angenommen. Dagegen wurde durch ein Bündnis aus Schweizerischem Gewerkschaftsbund (SGB), Travailsuisse, den Gewerkschaften Unia und VPOD sowie der SP Schweiz das Referendum erfolgreich ergriffen. Die Vorlage wird voraussichtlich im März 2024 vors Volk kommen. Braucht es diese Reform überhaupt noch?
Folgende Massnahmen sieht die BVG-Reform vor:
- Der Mindestumwandlungssatz im Obligatorium soll von 6,8 Prozent auf 6 Prozent gesenkt werden.
- Für den tieferen Umwandlungssatz soll ein Teil der Übergangsgeneration für die ersten 15 Jahrgänge finanziell entschädigt werden:
- Beträgt das Altersguthaben 220’050 Schweizer Franken oder weniger, dann gibt es ein Anrecht auf den vollen Zuschlag. Dieser beträgt 200 Schweizer Franken pro Monat.
- Liegt das Altersguthaben zwischen 220’500 und 441’000 Schweizer Franken, dann passt sich der Zuschlag stufenweise an und beträgt 100 bis 150 Schweizer Franken pro Monat. Je höher das Guthaben, umso tiefer ist der Zuschlag.
- Hat man mehr als 441’000 Schweizer Franken gespart, dann gibt es keine Kompensation dafür.
- Das Altersguthaben wird unter anderem aus den jährlich eingezahlten Altersgutschriften angespart.
- Neu soll es im Alter von 25 bis 44 Jahren eine Altersgutschrift von 9 Prozent auf den BVG-pflichtigen Lohn geben.
- Ab dem 45. Lebensjahr würde die Altersgutschrift dann 14 Prozent betragen.
- Die Schwelle für einen obligatorischen Anschluss an die berufliche Vorsorge soll von 22’050 auf 19’845 Schweizer Franken (Stand 2023) gesenkt werden, wobei neu immer 80 Prozent des Lohnes versichert werden.
Im Mai 2023 hat die Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge (OAK BV) ihre Jahresmedienkonferenz abgehalten, unter folgendem Titel: Berufliche Vorsorge: Stark negatives Anlagejahr und steigende Anzahl Unterdeckungen / Umverteilung wie im Vorjahr gering [AdR: lesen Sie hier mehr dazu]. Zur Erklärung: Die OAK BV ist eine unabhängige Behördenkommission. Sie überwacht die acht kantonalen/regionalen Aufsichtsbehörden sowie direkt die Anlagestiftungen, den Sicherheitsfonds und die Auffangeinrichtung; die Gralshüterin der beruflichen Vorsorge gewissermassen.
Besonders hervorheben möchte ich zwei Punkte aus den Themenbereichen der OAK BV: Die OAK äussert sich zu den Umverteilungseffekten. Laut OAK ist zu erwarten, dass mit den von den Vorsorgeeinrichtungen während den letzten mindestens zehn Jahren getroffenen Massnahmen (Senkung Umwandlungssatz und Senkung technische Zinssätze) sowie mit dem im Berichtsjahr beobachteten deutlichen Anstieg des Zinsniveaus die Umverteilungsphase zulasten der aktiven Versicherten zu ihrem Ende gekommen ist, wobei dies nicht für die BVG-Minimalkassen gilt. Für diese Einrichtungen wird es laut OAK erst mit der im Parlament verabschiedeten BVG-Reform möglich sein, ein nahezu ohne Umverteilung finanzierbares Leistungsniveau umzusetzen. Die OAK BV hält in der Medienmitteilung fest, dass die vom Parlament in der BVG 21-Reform beschlossene Anpassung des Umwandlungssatzes an die demografische und wirtschaftliche Realität, sprich die gestiegene Lebenserwartung und das tiefere Zinsniveau, insbesondere die BVG-Minimalkassen entlasten würde. Dies stärke die finanzielle Stabilität des Systems.
Auf die Gefahr hin, die Aussagen der OAK BV falsch oder völlig einseitig zu interpretieren, aber wenn die OAK BV einen dringenden Handlungsbedarf eigentlich nur in Bezug auf reine BVG-Minimalkassen sieht, dann betrifft das einen relativ kleinen Anteil der Vorsorgeeinrichtungen. Das könnte allenfalls auch der Markt richten, braucht es dazu wirklich eine BVG-Reform? Die Eintrittsschwelle oder auch den Koordinationsabzug oder auch den Sparplan können die Vorsorgeeinrichtungen auch selber anpassen. Für einen fortschrittlichen Arbeitsgeber erhöht sich seine Attraktivität, wenn er eine gute Vorsorgelösung anbieten kann, was v.a. in Sektoren mit Fachkräftemangel an Bedeutung zunehmen wird. Angesichts der Zinsentwicklung ist der Handlungsdruck zudem zwischenzeitlich sicher nicht grösser geworden. Ich habe im Januar 2023 mein persönliches Fazit zur BVG-Reform 2023 kommuniziert: Lieber keine Reform als eine schlechte und fühle mich durch den OAK-Bericht halt noch eher bestätigt. Aber: Mit einer Ablehnung der BVG-Reform 2023 sind die grundlegenden Probleme nicht vom Tisch: Um das Ziel, die wirtschaftliche Sicherheit im Alter effektiv auch gewährleisten zu können, braucht es weitergehende Reformen, die über das 3-Säulensystem hinausgehen, in einem integralen Ansatz.
Was könnte das heissen: Für die erste Säule wäre eine 13. Rente sicher wünschbar. Aber mit Blick auf die gescheiterten Versuche, die Leistungen in der ersten Säule zu erhöhen, bin ich eher skeptisch, ob dies der Königsweg wäre. Für die 2. Säule bin ich klar der Auffassung, dass wir uns dem Kapitaldeckungsprinzip wieder stärker annähern müssen. Zudem müsste der Gesetzgeber ein gesetzliches Leistungsziel vorgeben. Eigentlich wäre dies die sozialpolitisch absolut zentrale Grösse. Was m.E. hinzukommen muss, und da bin ich zum Glück nicht der einzige Rufende in der Wüste, ist ein Einbezug der Steuerpolitik. Wenn die wirtschaftliche Sicherheit im Alter verbessert werden soll, dann kann man das entweder durch höhere Renten, was politisch kaum mehrheitsfähig sein dürfte, und/oder durch eine Verminderung der finanziellen Belastungen der Rentenbeziehenden erreichen. Die Besteuerung der AHV-Rente zu 100% ist eigentlich ein sozialpolitischer Unsinn. Die erste Säule soll den Existenzbedarf sichern (Art. 112 Abs. 2 lit. b Bundesverfassung). Eine steuerliche Belastung auf dem Einkommen, das das Existenzminimum sichern müsste?
Wann regelt es die Politik endlich so?