Initiative Vaterschaftsurlaub

«Auch Väter leiden unter Unvereinbarkeit»

Interview mit Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm

Erschwerend kommt hinzu, dass man heutzutage die Kinder nicht mehr mit 22 hat. Sondern mit Mitte 30 – genau dann, wenn auch die wichtigsten Schritte in der beruflichen Laufbahn zu tun sind.

Wir haben soeben auch eine Studie über die Potenziale von Neupensionierten abgeschlossen. Das Ergebnis: Hier liegen viele Talente brach. Viele Rentnerinnen und Rentner werden nach ein, zwei Jahren, in denen sie die Schweiz abgewandert und die Welt bereist haben, von Langeweile befallen. Auch wenn sie es nicht zugeben. Darüber und über die gleichzeitige Überlastung in der Rushhour des Lebens, wo Kinder- und Karrierestress sich kumulieren, sollten wir nachdenken. Und überlegen, in welcher Weise die Älteren eingebunden und die Jüngeren entlastet werden können.

Sie sehen mich die Stirn runzeln. Aus zwei Gründen: Sind nicht die «jungen Alten» eh schon engagiert? Zigtausend Grosseltern sind in die Betreuung ihrer Enkel fix eingespannt.

Mit Entzerrung der Rushhour meine ich auch, dass in der intensiven Phase mehr Möglichkeiten geschaffen werden, sich der Familie zuzuwenden. Das muss nicht alles zwingend über Fremdbetreuung laufen. Gleichzeitig muss es auch möglich werden, in der Lebensmitte nochmals über die Bücher zu gehen, eine berufliche Neuorientierung vorzunehmen, ein ehrenamtliches oder kulturelles Engagement anzupacken… Und dieses neue Projekt muss nicht zwingend mit Alter 64 oder 65 abrupt zu Ende gehen.

Hier liegt der zweite Grund für meine Sorgenfalten: Eine Erhöhung des Rentenalters liegt für uns Gewerkschaften so ziemlich in der Mitte des Schmerzzentrums.

Das ist mir absolut klar; ich verstehe Ihre Vorbehalte. Ich spreche nicht von einseitigen Massnahmen, sondern von einer anderen Verteilung von erwerbsbefreiter Zeit auf die Lebensspanne. Mit den zusätzlichen Jahren, die uns heute geschenkt sind – bei der Pensionierung liegen 20 bis 25 gesunde Jahre vor uns –, stimmt unser heutiges Gesellschaftsmodell einfach nicht mehr überein. Da müssen wir neue Denkansätze wagen. Auch wenn ich Ihnen recht gebe: Natürlich macht es einen Unterschied, ob Sie Migroskassierin oder Bauarbeiter sind oder ob Sie einer Tätigkeit mit geringer körperlicher Belastung nachgehen, bei der Sie sich auch inhaltlich einbringen können.

Wir müssen auch daran denken, dass nicht nur der Nachwuchs, sondern auch die ältere Generation Betreuung erfordert.

Richtig. Und diese unbezahlte Betreuungsarbeit wird heute zum überwiegenden Teil von Frauen geleistet. Von Töchtern und Schwiegertöchtern. Es ist wichtig, auch diesen Aspekt bei der Debatte über Care-Arbeit vor Augen zu haben.

Ihre Worte scheinen mir in ein Plädoyer dafür zu münden, die Freizeit nicht am Lebensende aufzuhäufen. Sondern sie auch in der Lebensmitte zu nutzen. Eine Art vorgezogene AHV, ein bedingungsloses Grundeinkommen auf Zeit?

Heute kommen nach je ein paar Jahren Spielen, Schule und Ausbildung 40 oder 45 Arbeitsjahre ohne Punkt und Komma – und dann geht’s schlagartig von hundert auf null. Das halte ich nicht für ideal. Am einen Ort ist zu viel, am andern viel zu wenig Zeit. Über eine Korrektur möchte ich nachdenken. Ich weiss nicht, ob wir das hinbekommen. Es wird jedenfalls nicht einfach, weil viele – und teilweise auch legitime – Vorbehalte zu bedenken und Widerstände zu lösen sind.

Interview Christoph Schlatter, vpod

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