Drunter und drüber: Postfaktisches Zügeln

Glosse. Fabian Schambron hat seinen Wohnsitz verlegt und dabei festgestellt, dass Zügeln zwar persönlich und politisch lehrreich, aber wie viel Lehrreiches eben auch mühsam ist.

Niemand zügelt gerne. Zügeln ist ein Zustand, in dem man nicht nur fragt, wo denn der Besen sei, sondern wohin der Besen verschwunden ist oder woher plötzlich die acht kaputten Besen kommen, von denen man nicht wusste, dass man sie hat. Zügeln kehrt das Unterste nach oben und das Oberste nach unten. Alle Gewohnheiten, die man über Jahre entwickelt hat, müssen sich mit anderem bisher Unhinterfragtem frisch verwurzeln. Was das heissen kann, veranschaulichen die folgenden drei Fragen.

«Wo ist der Mietvertrag?» Klar, der ist wichtig, weil er die Anmeldung am neuen Ort ermöglicht und mittelfristig verhindert, dass die ganze Zügelarbeit per Polizei wieder rückgängig gemacht wird. Verlorengegangen ist er nicht, er befindet sich mit allem – wirklich allem – anderen in einer der drei Dutzend Kisten, die man in einem Anfall von löblicher Ordnungsliebe fein säuberlich in einer Ecke gestapelt hat. Gut so, denn ohne Ordnung könnte man ja noch etwas verlieren. Und siehe da, nur sieben Wochen später taucht das Dokument wieder auf – in der untersten Kiste ganz hinten, bedeckt von dem, was einmal Zügelproviant war. Thunfisch-Sandwiches mit Ei, um genau zu sein.

«Was will nur diese Katze von uns?» Neue Nachbarschaft, neue Flora und Fauna. Im Winter hält sich die Flora meist noch zurück und die Fauna bleibt im Haus, was aber nicht nur gut ist. Im Haus gegenüber lebt nämlich eine Katze, die oft am Fenster sitzt und stundenlang in unser Wohnzimmer starrt mit diesem Katzenblick, der ganz kühl festzuhalten scheint, dass das Zeitalter der Menschen bald zu Ende gehen und jenes der Katzen anbrechen wird. Und dass sie uns kriegen wird, wenn es so weit ist. Miau.

«Wie sehr hassen uns die Nachbarn?» Das erste, was die Leute von einem hören, ist zwangsläufig Zusammenbaulärm und Zügelzwietracht: «Fabian, du hast gesagt, wir hätten einen Besen! Du hörst jetzt auf zu murren und gehst einen kaufen, während ich hier mit dem Schlagbohrer den Rest der Zwischenwand rausreisse.» Wenn besagter Fabian kurz darauf krank wird, während zwei Wochen in einer unordentlichen, mangels Vorhang von aussen bestens einsehbaren Wohnung siech herumliegt und schliesslich eines Morgens von der Türklingel geweckt wird, um ungewaschen, mit entzündeten Augen, im Pyjama und dem zufälligen Beisein einer Nachbarin vom Pöstler im Gang nicht weniger als drei Kisten Bier entgegenzunehmen – dann erübrigt sich alle weitere Arbeit am guten Ruf. (Das ist genau so passiert.)

Zügeln ist prä- und postfaktisch, denn es steht zwischen alten Wahrheiten und ihren Nachfolgern, die in diesem Fall aus einer Abneigung gegen Thunfisch mit Ei, Angst vor Katzen und dem Umgehen nachbarschaftlicher Begegnungen bestehen. Im Chaos zwischen den Wahrheiten wird oft nach oben gekehrt, was besser unten bliebe. Schimmlige Undinge tauchen aus dem Keller auf wie die angegilbte Ronald-Reagan-plus-Ronald-McDonald-Puppe, die gerade das mächtigste Land der Welt präsidiert. Es gibt beim Zügeln keine Möglichkeit, Fakten zu überprüfen, und somit unendliche Gelegenheiten, alternative ‚Fakten‘ zu schaffen: «Natürlich haben wir einen Besen! Schau doch in der achtzehnten Kiste da hinten nach, wenn du mir nicht glaubst.» Im Kleinen klärt sich die Lage spätestens, wenn die Wohnung eingerichtet und der Keller leer ist. «Fabian, du gehst jetzt einen Besen kaufen. Vom eigenen Geld.» Wenn es im Grossen doch nur auch so wäre.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.