Zu müde fürs Kino

4. Die negativen Faktoren

Woher also kommt der breit empfundene Stress? Warum klagt eine grosse Mehrheit über die Zunahme der psychischen Belastung? Die Umfrage liefert einen überaus deutlichen Hinweis. Nur auf eine einzige Frage im gesamten Fragebogen ging die extreme Antwort («trifft  vollkommen zu») häufiger ein als ihr milderes Pendant («trifft eher zu»). Und zwar bei jener nach der Administration. Dass diese zugenommen hat, bestätigen 84 Prozent der Antwortenden, das sind fünf Sechstel. Nur gerade 4 Prozent finden, das treffe überhaupt nicht zu, 12 Prozent finden: eher nicht. Aber über die Hälfte, volle 51 Prozent, stimmen mit der Aussage völlig überein. Die Umfrage bestätigt damit sehr klar: Sachfremde Elemente, neben-, vor- und nachgeordnete Arbeiten fressen jene Zeit und jene Energie auf, die man sich gerne fürs Kerngeschäft bewahrt hätte. Es gibt weitere Punkte, die, wenn auch nicht mit gleicher Deutlichkeit, in eine ähnliche Richtung weisen. Ebenfalls gut wahrnehmbar ist die Empfindung, für die eigentlichen Inhalte der Arbeit zu wenig Zeit zu haben.

Dieser Aussage stimmt eine knappe Zweidrittelmehrheit (63 Prozent) zu, etwas weniger als einem Viertel (23 Prozent) spricht sie sogar aus dem Herzen. Immerhin noch 60 Prozent bestätigen die Aussage, wonach die Arbeit durch äussere Einflüsse stark zergliedert und zerstückelt ist, «so dass ich mich oft nur schwer auf einen Gegenstand oder ein Gegenüber konzentrieren kann». Und ebenfalls noch eine mehrheitliche Zustimmung findet die Aussage «Ich kann meine Arbeit nicht so machen, wie ich es mir vorstelle und wie ich es gelernt habe». Eine Analyse nach Branchen zeigt, dass die Überadministration sich zumal in den typischen Frauenberufen und Frauenbranchen breitmacht, zu denen man heute auch die Schule zählen muss, daneben der Sozial- und der Gesundheitsbereich. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern ist im Sozialbereich geringfügig, deutlicher im Gesundheitswesen und in der Schule, wo die Frauen eine Zunahme der Administration etwas häufiger beklagen oder unter ihr stärker leiden als die Männer. Als Beispiel einer Branche, wo die Bürokratisierung nur als geringes Problem erscheint, ist der Verkehrsbereich daneben gestellt. Es ist davon auszugehen, dass insbesondere die  Wagenführerinnen und Chauffeure am Steuer ihres Gefährts im Normalfall hier wenig Probleme haben, weil während des Fahrens ihre volle Aufmerksamkeit dem Verkehr gilt. Zwar ist dieser – mit telefonierend vors Tram stolpernden Fussgängerinnen und rowdyhaft die Regeln missachtenden Velofahrern – zweifellos dichter und unberechenbarer geworden, zumal in den Innenstädten. Aber alle genannten Erscheinungen gehören «zum Verkehr» und sind nicht «artfremd». Ablenkung ist dort auch sozusagen von Amtes wegen unerwünscht und wird möglichst vermieden – auch wenn die Schilder «Bitte während der Fahrt nicht mit dem Wagenführer sprechen» an vielen Orten abmontiert sind. Hier kann man aber mit Fug und Recht die Frage stellen, warum diese (nahezu) vollständige Konzentration auf eine Tätigkeit oder einen Gegenstand anderen Berufsgruppen nicht ebenfalls zugestanden wird, wenigstens phasenweise.

Interessant sind diese drei Branchen auch hinsichtlich ihrer Antworten zum Kernauftrag: Bleibt dafür genügend Zeit, oder verlieren sich die Beschäftigten in Tätigkeiten, die nicht zu ihrem eigentlichen Dossier gehören? Auch in diesem Punkt ist das weibliche Geschlecht mit deutlicheren Aussagen vertreten als das männliche. Am engsten beieinander liegen die Geschlechter im Sozialbereich.

5. Nach Feierabend

Die Umfrage erlaubt die Aussage, dass die Kolleginnen und Kollegen abends (oder nach Feierabend) ziemlich groggy sind. Der Satz «Nach einem normalen Arbeitstag bin ich meistens so müde, dass ich mich nicht mehr zu Aktivitäten aufraffen kann» findet eine Zustimmungsrate von 66 Prozent. Das heisst: Ein überwiegender Teil jener Menschen, die im Service public in der Schweiz arbeiten, sind abends (oder bei Schichtschluss) zu müde fürs Kino, fürs Konzert oder für Sex. Mehr als Nudeln mit Fertigsauce kochen? Im Sportverein mitmachen? In einem Chor singen? Tanzen gehen? Ein Viertel (24 Prozent) ist dazu normalerweise nicht mehr in der Lage. Das halten wir für einen bestürzenden Befund. Erst recht im Licht der Mutmassung, dass die Erschöpfung in vielen Fällen nicht daher stammt, dass sich die Leute in ihrer eigentlichen Arbeit verausgabt hätten – sondern in sachfremden Zumutungen, in dauernder Störung, in administrativem Overkill.  Dabei ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern nicht riesig, aber bemerkenswert. Es sind mehr Frauen, die abends total oder etwas erschöpft sind, und es sind mehr Männer, die noch «handlungsfähig» sind. (Natürlich ist nicht auszuschliessen, dass «Aktivität»  geschlechtsspezifisch interpretiert wurde: Wenn er Fussballgucken als Aktivität einordnet…) Man kann sich darüber wundern oder auch nicht: Wer zu Hause minderjährige Kinder zu betreuen hat, ist nicht mehr und nicht weniger kaputt als Menschen ohne solche Aufgaben. Die Erschöpfung kommt aus dem Job, so viel ist klar. Da ist es nicht verwunderlich, dass Frauen, sofern sie die Hauptlast im Carebereich tragen, Pensumsreduktionen anstreben.

6. Das Fazit

Es ist etwas faul im Service public, wenn die berufliche Belastung Tag für Tag die gesamte Energie frisst, so dass die Beschäftigten Abend für Abend als Couch Potatoe enden. Der Zustand ist besonders darum nicht hinnehmbar, weil die Müdigkeit mutmasslich zu einem grossen Teil aus Nebensächlichem und Zusätzlichem, aus schlechter Arbeitsorganisation und unzureichend getesteten EDV-Programmen herrührt. Für den VPOD ist klar: Stress ist kein Einzel-, sondern ein Massenphänomen. Es braucht klarere Grenzen, kürzere Arbeitszeiten. Die Planbarkeit  muss verbessert werden, die Mitsprache ausgebaut. Die Beschäftigten eignen sich nicht als Versuchskaninchen für  ausgegorene Digitalexperimente: Sie brauchen auch im Beruf Zeit fürs Wesentliche.

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