Foto: Rolf Weiss (rolfweiss.ch)
Die Digitalisierung ist ein Problem – sie kommt beim Staat nicht so recht voran, obwohl sie sollte. Die Digitalisierung ist schwierig. Bundeskanzler Walter Thurnherr nennt die Herausforderungen in seinem Referat, das er anlässlich der Herbsttagung der Schweizerischen Gesellschaft für Verwaltungswissenschaften am 11. November 2021 in Bern gehalten hat.
Die Vorgeschichte ist bekannt: Die Digitalisierung wurde von vielen Regierungen und Parlamenten lange Zeit ignoriert, dann unterschätzt, dann überhöht, dann ertragen und kritisch kommentiert, und schliesslich – weil zu kompliziert – weiterdelegiert. Spätestens seit der Covid-Seuche ist jedoch klar, Digitalisierung ist Chefsache. Und zwar nicht nur dann, wenn man sich in einem Interview als aufgeschlossener Vorwärtsmensch positionieren kann, sondern auch dann, wenn man ins erste und zweite Untergeschoss der Verwaltung hinuntersteigen muss, um die bisherigen Prozesse zu verstehen, zu hinterfragen und neuzugestalten. Natürlich ist das kompliziert, langwierig, zum Teil technisch und schwierig zu vermitteln, vor allem, wenn man es mit Journalisten zu tun hat, die entweder zu wenig von der Verwaltung, zu wenig von der Digitalisierung oder zu wenig von beidem verstehen. Aber Sozialversicherungspolitik ist auch komplex und auch schwierig zu erklären. Oder Migrationspolitik oder Finanzpolitik. Und ich spreche jetzt nicht einmal von der Europapolitik, wo die Debatte inzwischen mehr als nur ein paar rekursive Loops in der Software aufzuweisen scheint.
Aber ja, die Herausforderungen in der Digitalisierung sind gross. Im Wesentlichen geht es dabei um zwei Aufgaben, die der Staat erfüllen muss. Erstens: Er muss das Potenzial der Digitalisierung für eine effiziente Verwaltung nutzen. Und da die Bundesverwaltung mehr sein sollte als sieben voneinander getrennte und mit sich selbst beschäftigte Organisationseinheiten, geht es bei der Digitalisierung eben nicht nur um die Einführung oder Ablösung der einen oder anderen Fachanwendung. Auch wenn in den letzten zehn Jahren die mit dem Hermeshandbuch ausgerüsteten Amtschefinnen und Amtschefs jeweils vor der Finanzdelegation vor allem die budgetierte Finanzierung und zeitgerechte Umsetzung der einzelnen Programme und Projekte belegen mussten, liegt die eigentliche Herausforderung ganz woanders, nämlich in der Zusammenarbeit zwischen den Organisationseinheiten: Im Datenmanagement, zum Beispiel, ohne das Datenschutzgesetz zu verletzen. Nur schon in der Überwindung der immer noch vorhandenen Medienbrüche und der fehlenden Schnittstellen, innerhalb der Verwaltung und gegen aussen. Ich meine, wir haben es zu Beginn der Pandemie nicht einmal geschafft, die Anzahl Covid-Patienten aus den 280 Spitälern der Schweiz innert nützlicher Frist zusammenzuzählen. Wir haben auch noch kein «Once Only»: Die Bürgerinnen und Bürger müssen dem Staat ihre Daten immer wieder von Neuem mitteilen. Und wir wissen nicht genau, wie wir die Differenz klären wollen, wenn ein Amt den Zugang zu den Daten in einem anderen Amt sucht, das betroffene Amt aber nicht bereit ist, diese zu teilen – ausser den Streitgegenstand gleich dem Bundesrat vorzulegen.
Wir sollten die Prozesse, zum Beispiel jene im Bereich der politischen Rechte, von der Einreichung einer Volksinitiative über die Vernehmlassung zur entsprechenden Botschaft und die Beratung im Parlament bis hin zur Redaktion des Abstimmungsbüchleins neugestalten, damit die Bürgerinnen und Bürger sie einfacher mitverfolgen können und die Verwaltung dieselben Dinge nicht mehrmals in verschiedenen Formaten aufschreiben muss. Wir sollten mit dem Parlament Datensätze austauschen können, ohne sie hier ausdrucken und dort wieder einscannen zu müssen. Wir sollten uns mit der Wirtschaft einfacher und intensiver austauschen können, insbesondere (aber nicht nur), wenn wir neue Anwendungen bauen wollen (mit dem Covid-Zertifikat haben wir gezeigt, dass das auch geht). Und, und, und. Letzte Woche haben wir das Programm GENOVA abgeschlossen und damit die Grundlage für eine einheitliche über- departementale Geschäftsverwaltung geschaffen. Das ist ein erster wichtiger Schritt, aber es gibt also noch viel zu tun.
Auch mit einer einheitlichen Cloud-Politik – wir werden nachher mehr davon hören – kann die Verwaltung deutlich effizienter werden. Dasselbe gilt für die Neugestaltung der SAP-Prozesse und ein mit Nachdruck verfolgtes E-Government, das sich nicht auf die Schaffung neuer Portale beschränkt und geduldig auf einen landesweiten Konsens wartet, bis man im E-Health-Bereich oder bei der Mobilität einmal etwas Substanzielles machen kann. Es geht bei E-Government vielmehr darum, den amtlichen Verkehr mit den Staatsebenen Bund, Kanton und Gemeinde so zu gestalten, dass die Bürgerinnen und Bürger möglichst wenig zu tun haben, statt sie mit Verweis auf die unterschiedlichen Zuständigkeiten von einer Stelle zur nächsten zu schicken. Man kann die Leute auch mit E-Mails nerven.
Meine Damen und Herren, auch wenn es noch nicht alle gemerkt haben: Was uns in Bundesbern betrifft, ist die Digitalisierung nicht eine elektronische Abbildung analoger Prozesse, sondern eine umfassende Verwaltungsreform. Sie hat im Übrigen auch grosse Auswirkungen auf die Arbeitswelt der Verwaltung, und zwar nicht nur, was das Arbeitsprofil und den Arbeitsort betrifft. Schon heute verstehen sich viele Bundesangestellte nicht mehr ausschliesslich als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BAFU oder des SECO, deren Zuständigkeitsgebiete und Federführungen es gegen die Barbaren aus den anderen Ämtern zu verteidigen gilt, sondern als Mitwirkende in vielfältigen überdepartementalen Prozessen, bei denen am Schluss zum Beispiel ein Postulatsbericht, eine Botschaft oder eine neue Verordnung entsteht. Gerade diese Aspekte sind es auch, die aus der Digitalisierung eine Chefsache machen.
Natürlich müssen auch die Voraussetzungen stimmen, damit der Staat das Potenzial der Digitalisierung gut nutzen kann: Wir sind zum Beispiel beim Beschaffungsrecht noch nicht dort, wo wir sein sollten. In der Steuerung und in der Aufsicht der Projekte haben wir Optimierungsbedarf. In der Finanzierung muss noch einiges geschehen, die Digitalisierung ist auch finanziell viel aufwendiger als ursprünglich angenommen. Immerhin hat der Bund mit der Schaffung von DVS (Digitale Verwaltung Schweiz) und DTI (Digitale Transformation und IKT-Lenkung) nun einige organisatorische Schritte unternommen, damit die Prozesse schneller und hoffentlich einmütiger ablaufen können. Die Erfahrungen dieses Jahres, mindestens was meinen Teil betrifft, die Neuschaffung der DTI in der BK, sind sehr positiv. In diversen Departementen scheint ein Ruck durch die Ränge gegangen zu sein, und der neugeschaffene Digitalisierungsausschuss des Bundesrates hat wesentlich dazu beigetragen, dass nötige Reformen nun breiter getragen und top down geführt werden.