Der Hummer im Hirn

Musterfall der Psychiatrie

Auguste Deter kam 1901 in die Obhut eines gewissen Alois Alzheimer, Arzt an der «Anstalt für Irre und Epileptische» in Frankfurt, nachdem sie bereits im Alter von rund 40 Jahren Symptome starker Demenz zeigte. Alois Alzheimer hatte zwar Erfahrung mit Demenzkranken, noch nie indes war ihm eine so junge Patientin begegnet. Er kümmerte sich intensiv um Deter, studierte ihren Fall und legte eine ausführliche Krankengeschichte mit zahlreichen Fotografien an. Nach Auguste Deters Tod 1906 obduzierte Alois Alzheimer ihr Gehirn und stellte jene Amyloid-Ablagerungen und Fibrillen fest, die bis heute als Krankheitsauslöser gelten. Genau 110 Jahre später ist nun möglicherweise ein Gegenmittel gefunden.

Plaques nach einem Jahr verschwunden

Aducanumab wurde vorerst an transgenen Mäusen präklinisch getestet. Der erste klinische Test mit 165 Alzheimer-Patientinnen und -patienten dauerte ein Jahr und wurde von Forschern an über 30 verschiedenen Orten in den USA durchgeführt. Die Testpersonen waren in fünf Gruppen eingeteilt, eine Placebogruppe und vier Gruppen mit unterschiedlich hohen Dosierungen; die Infusionen fanden monatlich statt.

«Der Effekt war massiv», sagt Roger Nitsch, «bei der Patientengruppe mit der höchsten Dosis waren die Amyloid-Ablagerungen nach einem Jahr praktisch verschwunden.» Als einzige Nebenwirkung traten bei einigen Probanden Kopfschmerzen auf; Nitsch schreibt sie dem biologischen Vorgang der Plaque-Entfernung zu.

Was aber, ist die Plaque einmal entfernt, geschieht mit den bereits zerstörten Hirnteilen?  «Kaputte Nervenzellen bleiben kaputt, leider», sagt Nitsch, «doch deren Funktionen – also Sprache, Namen, Orte – lassen sich wieder erlernen.» Allerdings: je früher im Leben, desto besser. Es ist deshalb erklärtes Ziel der Zürcher Forscher, mit der Lancierung von Aducanumab gleichzeitig auch ein Früherkennungssystem für Alzheimer ins Leben zu rufen. Nitsch denkt an standardmässige, von den Krankenkassen finanzierte Hirnscans bei 65-Jährigen, um Amyloid-Ablagerungen möglichst schon im Frühstadium zu

erkennen.

Denn die Bedeutung von Alzheimer als Volkskrankheit nimmt zu. Die Menschen werden immer älter, jedes zweite Mädchen, das heute in der Schweiz zur Welt kommt, wird ein Alter von hundert oder mehr Jahren erreichen. In vielen Belangen ist unser Körper nicht für eine solche Lebensdauer gerüstet. Das beweisen die Scheren-Enzyme, die ihren Kampf gegen Amyloid-Fibrillen nach gut fünfzig Jahren aufgeben; das beweist auch das Amyloid selbst, das dem Menschen beim Heranwachsen zwar dient, ihm im späteren Leben indes zu schaden beginnt. »Alles, was über das reproduktionsfähige Alter des Menschen hinausgeht, spielt für die Evolution eine untergeordnete Rolle», sagt Roger Nitsch.

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