Stefan Nauer, Teamleiter bei der Amtsstelle Arbeitslosenversicherung des Amtes für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Aargau, berichtet über die Herkules-Leistung seines Amtes, die zur Bearbeitung der Gesuche um Kurzarbeit nötig war. Ein Interview von Dr. Ruedi Bürgi mit Teamleiter Stefan Nauer.
Am 9. März 2020, also vor ziemlich genau zwei Monaten, sagten Sie in einem Interview in Tele M1, Sie hätten bis jetzt 35 Gesuche erhalten und bereits 33 davon behandelt, wo sonst doch ca. 90 Gesuche pro Jahr zu bearbeiten waren. Da ahnten Sie wohl noch nicht, welche Lawine auf Sie zukam? Wie entwickelten sich diese Zahlen?
Auch für uns kam die rasante Entwicklung im Zusammenhang mit dem Coronavirus überraschend. Wir rechneten aber bereits nach dem ersten Versammlungsverbot Ende Februar 2020 damit, dass sich die Situation im Bereich der Kurzarbeit extrem dynamisch entwickeln würde, und starteten schnell mit Aktionsplänen und verschiedenen Szenarien. Der tägliche Input an neuen Voranmeldungen von Kurzarbeit stieg innert Tagen von einigen wenigen auf 500. Nach dem Lockdown waren Tageswerte von 800 neuen Gesuchen keine Seltenheit. Normal war gestern! Auch verzeichnete die sofort eingerichtete Hotline und eine direkte E-Mail-Adresse täglich rund 500 Telefon- und rund 100 E-Mail-Eingänge. Es war für uns von Beginn an zentral, den Unternehmen rasch für Fragen zur Verfügung zu stehen.
Normalerweise ist eine einzige Person mit den Anträgen auf Kurzarbeit beschäftigt. Wie schafften Sie es, diese hereinbrechende Flut von Anträgen zu bewältigen und gleichzeitig noch an der Hotline die Unternehmen mit der Fragenbeantwortung zu unterstützen?
Natürlich konnten wir diese immense Flut von Anträgen und Anfragen nur mit zusätzlichen Ressourcen bewältigen. Dabei konnten wir schnell und unkompliziert auf die Hilfe von über 60 Mitarbeitenden der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren RAV bei der Gesuchsbearbeitung zählen. Und die Hotline wurde von über 30 Mitarbeitenden aus verschiedensten Kantonsabteilungen unterstützt. Insgesamt wurden bis gegen Ende April 2020 über 10’000 Bewilligungen für über 150000 Arbeitnehmende erteilt und rund 8’000 Telefone und 2’000 E-Mail-Anfragen beantwortet.
Ist es richtig, dass in dieser Situation für keinen der Beschäftigten des Amtes für Wirtschaft und Arbeit die vertragliche Arbeitszeit ein Thema war? Wie sah Ihre persönliche Arbeitswoche in zeitlicher Hinsicht aus?
Krisensituationen bedürfen grosser Anstrengungen in Sachen Planung, Organisation und Steuerung. Entsprechend sah auch meine zeitliche Belastung aus. Vor allem das Kernteam unserer Amtsstelle leistete massiv Überzeit, und in den kritischen März- und April-Wochen wurden Samstage meist im Büro oder im Homeoffice verbracht. Meine Arbeitszeit erreichte oft 12 Stunden oder mehr.
In welcher Zeitspanne erhielten die Gesuchsteller durchschnittlich vom Eingang ihrer Gesuche her den Entscheid?
Wir dürfen im Kanton Aargau stolz darauf sein, dass wir dank sofort angepassten Prozessen und dem überdurchschnittlichem Einsatz der Mit arbeitenden unsere Zielsetzungen von rascher und unkomplizierter Unterstützung der Aargauer Unternehmen sehr gut erreichen konnten. Bis zum Lockdown Mitte März 2020 lag die Bearbeitungszeit (von Anträgen ohne zusätzliche Abklärungen) vom Eingang einer Voranmeldung bis zum Entscheid bei 48 Stunden. Zu Spitzenzeiten Ende März 2020 bei 5 Arbeitstagen und dann vor Ostern wieder bei erfreulichen 48 Stunden.
Allerdings stehen wir nun vor der nächsten Herausforderung: Die Unternehmen müssen bei der Arbeitslosenkasse ihre Gesuche zur Auszahlung der Kurzarbeitsentschädigung einreichen. Wir haben in den letzten Tagen die personellen Ressourcen bei der Arbeitslosenkasse aufgestockt und werden auch die Prozesse noch weiter optimieren, um die zu erwartende Flut von Anträgen bewältigen zu können. Uns ist es sehr wichtig, dass die Unternehmen so rasch wie möglich ihr Geld erhalten.
Wie ist der Stand heute? Wie viele Gesuche gehen jetzt noch ein?
Es gehen noch jeden Tag rund 100 neue Gesuche von Kurzarbeit ein, die wir innert 2 Tagen entscheiden.
Worauf sind die Gesuche inhaltlich durch Sie zu prüfen? Haben Sie die Beurteilung in Zweifelsfällen eher streng oder wohlwollend vorgenommen?
Die Kurzarbeit bezweckt ja die Sicherung von Arbeitsplätzen. Bei dieser Menge von Gesuchen in kürzester Zeit müssen natürlich Prioritäten gesetzt werden. Entsprechend war es für die Aargauer Unternehmen wichtig, mit einem schnellen Entscheid von unserer Amtsstelle wenigstens Planungssicherheit in dieser schwierigen Zeit zu erhalten. Dass dabei die Detailprüfung gewisse Abstriche erfährt, ist der Situation geschuldet. Aber wir haben in Abgleich mit den Vorgaben der Aufsichtsbehörde SECO Checklisten und Entscheidungshilfen definiert, wonach wir jedes Gesuch nach einheitlichen Kriterien einzeln geprüft haben. Damit können wir trotz der aussergewöhnlichen Situation eine verhältnismässige Qualität sicherstellen.
Macht Ihnen der Umstand, dass an jedem Gesuch wirtschaftliche Schicksale von Menschen und Unternehmungen hängen, persönlich dann und wann zu schaffen?
Meinen Mitarbeitenden und mir macht die ganze Wirtschaftssituation zu schaffen und natürlich auch Einzelschicksale. Es kam nicht selten vor, dass wir Anlaufstelle für verzweifelte Unternehmen waren, weinende Kleinunternehmer oder Selbstständigerwerbende ohne Perspektive. Das geht an die Substanz. Aber die schöne Seite an unserer Aufgabe ist auch, tagtäglich den Unternehmen helfen zu können, indem man ihnen schnell, verständlich und verlässlich Orientierung in dieser schwierigen Zeit geben kann.
Wie viele Gesuche mussten abgewiesen werden? Hat es darunter viele Härtefälle von Unternehmen, die Unterstützung nötig hätten, deren Gesuche aber von Gesetzes wegen nicht bewilligt werden konnten?
Wir haben rund 200 Gesuche ganz oder teilweise abgelehnt, was nur rund 2% aller Voranmeldungen entspricht. Ob es sich dabei um Härtefälle handelt, kann ich nicht beurteilen. Man muss aber berücksichtigen, dass der direkte Kausalzusammenhang zwischen den verkürzten Arbeitszeiten und den behördlichen Massnahmen wegen des Coronavirus rasch gegeben ist. Zudem hat der Bundesrat im Bereich der Kurzarbeit oder auch neu der Erwerbsausfallentschädigung sehr viele Erleichterungen für Personengruppen geschaffen. Damit werden sich die Härtefälle aus Sicht ablehnender Entscheide in Grenzen halten.
Wie sieht es mit Anträgen für öffentlich-rechtliche Angestellte aus? Besteht da auch ein Anspruch?
Der Zweck der Kurzarbeitsentschädigung besteht darin, das wirtschaftliche Risiko eines Arbeitsplatzverlustes infolge der dem Betrieb eigenen Risiken (Konkurs, Schliessung des Betriebs) auszugleichen. Entscheidend ist, ob durch die Zusprechung einer Entschädigung kurzfristig eine Entlassung verhindert werden kann. In der Regel sind die Anspruchsvoraussetzungen für Kurzarbeitsentschädigung bei öffentlich-rechtlichen Arbeitgebern nicht gegeben, da sie kein eigentliches Betriebsrisiko tragen.
Gibt es auf der anderen Seite auch viele aussichtslose Gesuche resp. solche von Unternehmen, die von der Situation profitieren wollen? Mit anderen Worten: Wie steht es um die Moral der Aargauer aus einer Gesamtsicht der Gesuche?
Wir konnten – soweit dies aufgrund der administrativ massiv vereinfachten Voranmeldungs- und Abrechnungsgesuche überhaupt feststellbar war – bis anhin nicht viele offensichtliche Missbrauchsfälle feststellen. Aber natürlich wird es in der Masse schwarze Schafe geben, die z.B. beim Deklarieren der Ausfallstunden gegenüber der Arbeitslosenkasse falsche Angaben machen werden. Es wird aber Nachkontrollen geben, die solches Verhalten aufdecken werden.
Wie fielen die Reaktionen der Bürgerinnen und Bürger aus?
Ich bringe immer wieder das mehr als eindrückliche Beispiel der Reklamationen, die auf meinem Tisch gelandet sind. Ganze zwei Arbeitgeber (!!) waren mit unseren Dienstleistungen nicht zufrieden, das sagt alles aus bei diesen Zahlen, die wir bewältigt haben. Auf diesen Leistungsausweis bin ich extrem stolz. Wir haben in den letzten Wochen auch immer wieder sehr viel Verständnis von allen Seiten für unsere anspruchsvolle Situation im Vollzug gespürt. Diese Wertschätzung gab uns tagtäglich wertvolle Energie.
Worauf – ausser auf ein paar verdiente zusätzliche Freitage – freuen Sie sich am meisten in den nächsten Wochen und Monaten?
Dass unsere Mitarbeitenden, die einen riesen Job gemacht haben, wieder in einen normalen Arbeitsrhythmus zurückkehren können und Achtsamkeit mit sich selbst einkehrt.
«Zusammen schaffen wir es!»
Zusatzfragen an Giovanni Pelloni, stellvertretender Leiter des Amtes für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Aargau.
Was sagen Sie zur Leistung, die Ihre Mitarbeitenden vollbracht haben?
Wir – und da spreche ich auch für Thomas Buchmann, dem Leiter des AWA – sind sehr stolz auf unsere Mitarbeitenden. Die Bereitschaft, den Kolleginnen und Kollegen zu helfen, war beeindruckend. Schön war auch zu sehen, dass trotz des grossen Einsatzes der Spass nicht zu kurz kam und die Stimmung heiter war. Man hat richtig gemerkt, dass ein Zusammengehörigkeitsgefühl aufkam – «zusammen schaffen wir es»!
Waren Sie in der Planung auf ein solches Szenario vorbereitet? Ohne Konzept wäre die Bewältigung einer solchen Masse von Gesuchen organisatorisch und von der Infrastruktur her wohl gar nicht möglich gewesen.
Auf ein solches Szenario kann man sich gar nicht vorbereiten. Wir hatten in der Vergangenheit zwar immer wieder kleinere Vorkommnisse, bei denen wir Personal von einem Bereich bzw. einem RAV in ein anderes verschieben mussten, um auszuhelfen, aber bei weitem nicht in diesem Ausmass. Die eingehende Post bzw.das Scanning musste physisch vor Ort erledigt werden. Die Verfügungen konnten dezentral vom Arbeitsplatz im Büro oder aus dem HomeOffice erledigt werden. Wir mussten die Situation täglich analysieren und entsprechend agieren. Geholfen hat sicher auch, dass der Betrieb in den RAV wegen der ergriffenen Corona-Massnahmen eingeschränkt war, so waren viele Personalberatende relativ schnell verfügbar. Von der Infrastruktur her war ich überrascht, wie rasch letztlich das flächendeckende Homeoffice möglich wurde und wie stabil die Verbindung grossmehrheitlich funktioniert hat. Ein Dank geht hier auch an die IT des AWA und auch des Kantons.
Wie schätzen Sie unter der Annahme, dass die Wirtschaft in den nächsten Wochen und Monaten wieder angekurbelt werden kann, die Entwicklung bei den Arbeitslosenzahlen ein? Werden Sie dann gleich nochmal massiv belastet werden?
Mit einem solchen Szenario ist leider zu rechnen. Die neuesten Konjunkturdaten sind düster, und die Zahl der Stellensuchenden dürfte erheblich steigen. Wir alle hoffen, dass der Konjunktureinbruch «V-förmig» ausfallen und bereits im nächsten Jahr eine Erholung stattfinden wird. Wir rechnen aber mit deutlich höheren Stellensuchendenzahlen, werden als Folge davon neue Personalberatende auf allen RAV einstellen und auch bei der Arbeitslosenkasse zur Gewährleistung der Auszahlung der Arbeitslosenentschädigung Aufstockungen vornehmen.