Angstkultur und Burn-outs: Insider berichten über die Krise in der Stadtpolizei

Foto: Alice Malherbe

Innert kurzer Zeit haben sich zwei Stadtpolizisten in Winterthur das Leben genommen. Mehrere Quellen berichten von einem schlechten Betriebsklima. Im Zentrum der Kritik steht die Führung.

Am 11. Februar 2022 hat sich ein langjähriger Polizist der Stadtpolizei Winterthur auf dem Posten das Leben genommen. Es ist der zweite Suizid innert kurzer Zeit. Im letzten Juli hatte sich ein langjähriger Korpsangehöriger auf einer Wanderung das Leben genommen. Beide Kollegen hatten auf derselben Abteilung in einem kleinen Team gearbeitet. Der «Blick» berichtete zuerst über den Vorfall.

Die beiden Suizide werden nun untersucht – einerseits durch die Zürcher Staatsanwaltschaft, andererseits hat die zuständige Stadträtin, Sicherheitsvorsteherin Katrin Cometta (GLP), eine Administrativuntersuchung angekündigt. Dies bestätigt sie dieser Zeitung auf Anfrage. Die konkreten Ursachen der Suizide sind unklar. Die Staatsanwaltschaft teilt mit, dass es derzeit keine Hinweise auf strafrechtlich relevante Dritteinwirkung gibt, die zum Tod des Mannes geführt haben könnte.

Klar ist hingegen, dass im Korps und in dessen Umfeld massive Kritik an der internen Kultur der Stapo kursiert. Im Gespräch mit vier voneinander unabhängigen Quellen und gestützt auf verschiedene Dokumente zeigt sich, dass sich diese Kritik auf drei Themen konzentriert: Kommunikation, Klima und Führung.

Die Quellen bleiben anonym, weil sie dem Amtsgeheimnis unterstehen oder nicht autorisiert sind, über Interna zu sprechen.

Die beiden langjährigen Stadtpolizisten S. und M. arbeiten im gleichen Team, sie kennen sich gut. Sie eint, dass beide eine belastete Beziehung zu ihrem direkten Vorgesetzten haben. Für S. verschlimmert sich die Situation im Frühjahr 2021, als es zu einer kurzfristigen räumlichen Verlegung des Teams kommt – gemäss einer Quelle in einer «Nacht-und-Nebel-Aktion».

Das Team arbeitet fortan in einem Not-Kommandoposten abseits des Hauptsitzes in einem Untergeschoss, ohne direktes Tageslicht.

Die räumliche Umplatzierung ist temporär, und es gibt einen Grund dafür: Die Stadtpolizei Winterthur wird nach jahrelanger Bauzeit Ende Mai 2022 in ein neues Gebäude ziehen. Im Vorfeld des Umzugs kam es zu Raumproblemen – auch wegen Corona.

S. beschwert sich über Arbeitsbedingungen

Laut mehreren Quellen beschwert sich S. über die Arbeitsbedingungen im neuen Büro, indem er ein Schreiben an die Tür hängt, in dem er die Zustände kritisiert. Dies führt zu weiteren Spannungen mit dem Vorgesetzten. Im April 2021 wird S. krankgeschrieben. Mitte Juni – S. ist immer noch krankgeschrieben – wird kommuniziert, dass S. per 1. Juli neue Aufgaben bekomme. Eine Folge davon: Er wird viel enger als bis anhin mit seinem Vorgesetzten zusammenarbeiten.

Die Umteilung bezeichnen drei Quellen als «unverständlich». S. habe sich viele Jahre mit den ihm anvertrauten Aufgaben befasst, sich ein Netzwerk aufgebaut, er sei im Korps und bei den Winterthurerinnen und Winterthurern geschätzt gewesen.

Kurz darauf nimmt sich S. auf einer Wanderung das Leben. Seine Frau hat ihn zuvor als vermisst gemeldet. Er wurde 60 Jahre alt. Fast 40 Jahre davon hat er bei der Stadtpolizei Winterthur gearbeitet. Das offizielle Todesdatum wird auf den 12. Juli 2021 festgesetzt.

Die Gründe für die Umteilung bleiben unklar. Die Stadtpolizei verweist auf Anfrage an das Departement für Sicherheit und Umwelt. Dessen Chefin Katrin Cometta schreibt auf Anfrage zu den beiden Suizid-Vorfällen: «Der erste wie auch dieser Suizid eines langjährigen Mitarbeiters schockieren das Korps und mich zutiefst. Die letzten Tage habe ich beim Korps verbracht. Die Trauer und Betroffenheit ist gross.» Als Stadträtin und Vorsteherin des Departements Sicherheit und Umwelt stelle sie aufgrund der Vorfälle beim Stadtrat einen Antrag auf eine umfassende Administrativuntersuchung.

Weitere Fragen könne sie aufgrund des Persönlichkeitsschutzes für die betreffenden Mitarbeitenden, der laufenden Untersuchung und der geplanten Administrativuntersuchung nicht beantworten.

Mitglieder des Teams forderten Versetzung

Nach dem ersten Suizid im Juli 2021 ist das Korps fassungslos. Ein Polizist bricht an der Beerdigung zusammen und muss gestützt werden.

Was die Stadtpolizei nach dem Tod von S. unternimmt, ist unklar. Fragen dazu bleiben unbeantwortet. Klar ist: Die Stimmung im betroffenen Team wird nicht besser. Im Herbst 2021 fordern Mitglieder bei der Korpsleitung eine Versetzung des Vorgesetzten. Man wolle nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten. Die Korpsleitung lehnt den Antrag ab.

Warum? Die Stadtpolizei nimmt keine Stellung dazu.

Als klar wird, dass der Chef nicht versetzt wird, verlangen Polizist M. und ein weiteres Teammitglied stattdessen für sich eine Versetzung. Per 1. Januar 2022 werden sie in eine neue Abteilung eingeteilt: Beide arbeiten nun nicht mehr draussen, sondern im Innendienst. Für M., der gerne als Polizist unterwegs ist, keine ideale Lösung.

Die Versetzung sei aber nicht als Strafe zu sehen, sagen mehrere Quellen, sondern in solch kurzer Frist die einzige Option.

Am Freitagmorgen, dem 11. Februar 2022, findet ein Mitarbeiter seinen Kollegen M. auf der Wache tot vor. Er hinterlässt einen Abschiedsbrief, dessen Inhalt nicht bekannt ist. Auch er war 60-jährig, auch er hat fast sein ganzes Berufsleben bei der Stapo Winterthur verbracht.
Verband fordert «lückenlose und umfassende Aufklärung»

In der Belegschaft sitzen der Schock, die Trauer und die Wut tief. Cornel Borbély, Präsident des Winterthurer Polizeibeamtenverbands (PBV), lässt sich folgendermassen zitieren: «Wir sind zutiefst erschüttert über die traurige Nachricht vom Tod eines geliebten Kollegen und Freundes. Mit ihm verlieren wir innerhalb eines Jahres einen zweiten Kollegen durch einen Suizid. Viele Fragen sind ungeklärt. Wir fordern von Politik und Polizeiführung eine lückenlose und umfassende Aufklärung.»

1 Kommentar “Angstkultur und Burn-outs: Insider berichten über die Krise in der Stadtpolizei

  1. Dieses Problem mit der autoritären Führung, katastrophaler Kommunikation und Hau-Ruck-Aktionen gibt es leider nicht nur bei der Polizei. Das ist auch in anderen Departementen, Abteilungen so.
    Ein Wunder und Glück, dass sich nicht noch mehr Mitarbeitende das Leben nehmen.

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