Präsentismus – sich krank zur Arbeit schleppen

Die Nase läuft, im Hals kratzt’s, der Kopf brummt und das Fieber steigt und steigt. Mehrere Schweizer Studien zeigten, dass sich viele Angestellte mit Krankheitssymptomen zur Arbeit schleppen, anstatt das Bett zu hüten. Ist Präsentismus, also die Anwesenheit am Arbeitsplatz trotz eingeschränkter Leistungsfähigkeit infolge gesundheitlicher Beeinträchtigung, aus rechtlicher Sicht überhaupt erlaubt? Im Zusammenhang mit Präsentismus stellen sich verschiedene Rechtsfragen, auf die nachfolgend näher eingegangen wird.

Ursachen und Folgen von Präsentismus

Die Gründe für Präsentismus sind vielfältig. Arbeitnehmende schleppen sich aus Pflichtgefühl, grosser Arbeitslast, Druck von Vorgesetzten, Kündigungsangst oder Identifikation mit ihrer Arbeit krank zum Arbeitsplatz. Die Folgen von Präsentismus sind nicht zu verharmlosen. Es besteht unter anderem die Gefahr, dass die betroffenen Mitarbeitenden länger brauchen, um vollständig zu genesen. Dieses Phänomen, trotz Krankheit zu arbeiten, schadet nicht nur dem jeweiligen Mitarbeitenden selbst, sondern auch die übrigen Mitarbeitenden können angesteckt werden. Nicht zuletzt ist auch der Arbeitgeber betroffen: Aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigung kann die Arbeitsqualität leiden und es entstehen Fehler. Schliesslich besteht das Risiko, dass der Arbeitnehmende wegen einer nicht auskurierten Krankheit zu einem späteren Zeitpunkt längerfristig arbeitsunfähig wird. Laut Schätzungen sei Präsentismus etwa zehnmal teurer als Absentismus.

Rechtliche Fragestellungen

Präsentismus und die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers

Die kantonalen Personalgesetze verlangen in Analogie zum Privatrecht (vgl. Art. 328 OR), dass der Arbeitgeber im Arbeitsverhältnis die Persönlichkeit des Arbeitnehmers achtet, auf dessen Gesundheit gebührend Rücksicht nimmt und für die Wahrung der Sittlichkeit sorgt. Der Arbeitgeber hat zum Schutz von Leben, Gesundheit und persönlicher Integrität der Arbeitnehmer die Massnahmen zu treffen, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem Stand der Technik anwendbar und den Verhältnissen des Betriebes oder Haushaltes angemessen sind. Die Verpflichtung zum Gesundheitsschutz ist auch öffentlich-rechtlicher Natur. Die entsprechenden Grundlagen finden sich in Art. 82 UVG sowie in Art. 6 ArG und der Verordnung 3 zum Arbeitsgesetz. Die öffentlich- und privatrechtlichen Verpflichtungen der Arbeitgeberin beinhalten auch eine Schutzpflicht gegenüber gesundheitlich angeschlagenen Arbeitnehmenden.

In der juristischen Lehre wird aus der Fürsorgepflicht eine Verpflichtung des Arbeitgebers abgeleitet, Präsentismus zu unterbinden. Er muss ein Betriebsklima schaffen, welches den Arbeitnehmenden ermöglicht, bei Krankheit zu Hause zu bleiben. Dieser Problematik kann beispielsweise mit Stellvertretungsregelungen Abhilfe geschafft werden.

Aus der Fürsorgepflicht wird zudem abgeleitet, dass der Arbeitgeber den offensichtlich kranken Arbeitnehmenden nach Hause schicken muss. Der Arbeitgeber kann sich auf sein Weisungsrecht stützen. Auch eine Erledigung der Aufgaben im Homeoffice kommt grundsätzlich nicht in Frage. Arbeiten im Homeoffice ist nur in begründeten Einzelfällen zulässig; bspw. wenn der Arbeitnehmende zwar noch ansteckend, aber schon wieder voll leistungsfähig ist.

Vor dem Hintergrund der arbeitgeberischen Fürsorgepflicht heikel sind Prämiensysteme wie bspw. Anwesenheitsprämien, die Krankheitsabsenzen oder Fehltage allgemein bestrafen.

Zeitlicher Kündigungsschutz

Grundsätzlich gilt im öffentlich-rechtlichen Anstellungsverhältnis analog zum Privatrecht: Die Arbeitgeberin darf nach Ablauf der Probezeit das Arbeitsverhältnis während einer gewissen Frist nicht kündigen, wenn der Arbeitnehmer ohne eigenes Verschulden durch Krankheit oder Unfall ganz oder teilweise an der Arbeitsleistung verhindert ist. Eine während der Sperrfrist ausgesprochene Kündigung ist nichtig (vgl. Art. 336c Abs. 1 lit. b und Abs. 2 OR). Im Zentrum steht dabei, dass eine Anstellung durch einen neuen Arbeitgeber nach Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist wegen der Unsicherheit bezüglich Dauer und Grad der Arbeitsunfähigkeit sehr unwahrscheinlich ist.

Es stellt sich die Frage, ob ein Arbeitnehmer, welcher arbeitsunfähig geschrieben ist und dennoch zur Arbeit geht, zeitlichen Kündigungsschutz geniesst. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind arbeitsunfähige oder teilweise arbeitsunfähige Arbeitnehmende, die dennoch arbeiten, gleichwohl durch die Sperrfrist geschützt. Der gesetzliche Kündigungsschutz setzt nicht voraus, dass der Arbeitnehmer um seine Krankheit weiss oder der Arbeitgeber darüber informiert ist. Es geht darum, dass der Sperrfristenschutz auch dann bestehen bleiben soll, wenn sich der Arbeitnehmer überwindet und zur Arbeit erscheint, obwohl er dies nicht müsste. Allerdings wird der zeitliche Kündigungsschutz auch hier nur ausgelöst, wenn die Krankheit den Antritt einer neuen Stelle unwahrscheinlich erscheinen lässt.

Pflichten des Arbeitnehmers

Als Gegenstück zur Fürsorgepflicht des Arbeitgebers trifft den Arbeitnehmenden eine Treuepflicht. Diese Treuepflicht wird in den kantonalen Personalgesetzen in der Regel entsprechend der privatrechtlichen Regelung in Art. 321a Abs. 1 OR ausgestaltet. Danach sind die Arbeitnehmenden verpflichtet, die berechtigten Interessen der Arbeitgeberin in guten Treuen zu wahren. Gemäss Bundesgericht sind krankgeschriebene Arbeitnehmende grundsätzlich nicht verpflichtet, ihre Arbeit niederzulegen. Dies gilt jedoch nur solange die eigene Gesundheit oder diejenige von Dritten nicht gefährdet wird und die Arbeitsfähigkeit nicht beeinträchtigt ist. Sofern der Arbeitgeber seiner Fürsorgepflicht nachgekommen ist, verletzt der Arbeitnehmende durch Präsentismus unter Umständen seine Treuepflicht. Arbeitnehmende, welche entgegen ausdrücklicher Weisung der Arbeitgeberin weiterarbeiten und sich nicht auskurieren, riskieren bei einer späteren Arbeitsunfähigkeit, dass ihnen im Rahmen der Lohnfortzahlung vorgehalten wird, diese sei nicht unverschuldet.

Fazit

Das Phänomen Präsentismus ist eine ernst zu nehmende Angelegenheit, welche negative gesundheitliche sowie finanzielle Auswirkungen hat. Entgegen der Annahme, man tue der Arbeitgeberin etwas Gutes, wenn man krank zur Arbeit erscheint, überwiegen letztendlich die negativen Folgen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Aus diesem Grund muss es im Interesse beider Seiten liegen, ihre arbeitsrechtlichen Pflichten wahrzunehmen und Präsentismus zu unterbinden.

1 Kommentar “Präsentismus – sich krank zur Arbeit schleppen

  1. Danke für diesen wertvollen Beitrag. Als früherer Vorgesetzter hätten diese Worte mir geholfen, meine innere Haltung besser in Worte fassen zu können.

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