Wie weit reicht die Auskunfts- und Offenlegungspflicht von persönlichen Angaben im Bewerbungsverfahren?

Urteil des Bundesgerichts 8C_387/2022 vom 21. August 2023

Das Bundesgericht musste im Entscheid vom 21. August 2023 die Rechtmässigkeit einer Kündigung durch die SBB wegen angeblich unwahrer und unvollständiger Angaben über Gesundheitsdaten im Bewerbungsverfahren beurteilen. Die SBB warf der Arbeitnehmerin A vor, auf einem Fragebogen betreffend bestehende Gesundheitsbeeinträchtigungen falsche Angaben gemacht zu haben. Gemäss SBB habe die Arbeitnehmerin A mit diesem Verhalten gegen die vorvertragliche Treuepflicht verstossen. Das Bundesgericht stand vor der Frage, ob die Arbeitnehmerin A ihre Auskunfts- und Offenlegungspflichten im Bewerbungsverfahren verletzt hat und dies ein sachlich hinreichender Kündigungsgrund darstellt. Zudem musste das Bundesgericht prüfen, ob die Kündigung allenfalls als missbräuchlich zu qualifizieren ist.

Der konkrete Sachverhalt
A musste sich anlässlich des Bewerbungsverfahrens für eine Stelle als «Zweitausbildung zur Kundenassistentin SBB» einer medizinischen Eignungsuntersuchung unterziehen. Im Zusammenhang mit der Frage «Leiden Sie zurzeit an einer Gesundheitsstörung?» wurde Folgendes festgehalten: «Unter Gesundheitsstörungen sind Krankheiten oder Einschränkungen zu verstehen, die wiederholt auftreten und eine periodische Kontrolle durch einen medizinischen Spezialisten und/oder die Einnahme von Medikamenten erfordern. Bitte geben Sie auch dann mögliche Gesundheitsstörungen an, wenn Sie im Alltag keine Schmerzen haben und sich arbeitsfähig fühlen.» A beantwortete die obengenannte Frage mit «Nein».

Die Vorgesetzten stellten erst nach mehrjähriger Anstellung und erfolgreichem Abschluss der Zweitausbildung zur SBB-Kundenbetreuerin fest, dass die Arbeitnehmerin hinkte. Das Hinken blieb während des Vorstellungsgesprächs und Arztbesuchs unbemerkt. Ein beigezogener Arzt diagnostizierte bei A eine chronische Beeinträchtigung aufgrund eines länger zurückliegenden Unfalls. Abgesehen von einem leichten Hinken beim Gehen gäbe es gemäss Arzt keine Auswirkungen auf ihre berufliche Tätigkeit. Der Arzt fügte hinzu, dass A zwar keiner Behandlung bedürfe, jedoch von einem erhöhten Morbiditäts- und Invaliditätsrisiko auszugehen sei. Auf Nachfrage der SBB teilte er mit, dass A den Einstellungsfragebogen nicht korrekt ausgefüllt habe.

Mit Schreiben vom 12. Februar 2021 teilte die SBB A mit, sie beabsichtige, das Dienstverhältnis aufgrund von Verhaltensmängeln ordentlich zu kündigen. Mit Verfügung vom 25. Februar 2021 kündigte die SBB das Arbeitsverhältnis per 31. Mai 2021. Mit Urteil vom 3. Mai 2022 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde von A gegen die Kündigungsverfügung ab und schützte die Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Gegen den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts hat A Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht erhoben.

Der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts
Das Bundesverwaltungsgericht hielt fest, A wäre angesichts der Bedeutung der medizinischen Untersuchung im Rahmen des Anstellungsverfahrens zur Kundenbetreuerin und der erhaltenen Anweisungen zum vollständigen und wahrheitsgetreuen Ausfüllen des Gesundheitsfragebogens verpflichtet gewesen. Durch das Verschweigen ihrer gesundheitlichen Probleme, die sich auf ihre Arbeit auswirken könnten, hatte die Beschwerdeführerin gegen ihre vorvertragliche Treuepflicht verstossen. Für das Bundesverwaltungsgericht waren nicht das Hinken und die chronische Krankheit der Grund für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Ausschlaggebend war vielmehr, dass A durch ihre unwahren Angaben zu entscheidenden Vertragselementen zum Zeitpunkt ihrer Anstellung, ihre vorvertragliche Treuepflicht verletzt und das Vertrauensverhältnis zwischen ihr und dem Arbeitgeber endgültig zerstört habe. Da sie ihre Anstellung insbesondere auf der Grundlage einer Lüge erhalten hatte, konnte ihr danach kein Vertrauen mehr entgegengebracht werden. Das Bundesverwaltungsgericht war der Auffassung, der Arbeitgeber habe über objektiv hinreichende Gründe im Sinne von Art. 10 Abs. 3 BPG verfügt. Da das Verhalten der Arbeitnehmerin geeignet gewesen sei, das Vertrauensverhältnis zum Arbeitgeber unwiederbringlich zu zerstören, könne dem Arbeitgeber auch nicht vorgeworfen werden, dass er gegenüber der Arbeitnehmerin keine Kündigungsandrohung ausgesprochen habe.

Die Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht führte zunächst aus, der Zweck des Vorstellungsgesprächs sei es, den potentiellen Vertragsparteien eine konkrete Vorstellung von den Bedingungen zu vermitteln, welche die verschiedenen Aspekte des künftigen Arbeitsverhältnisses betreffen. Beide Seiten benötigten bestimmte Informationen. Auf Seiten des Arbeitgebers wird diesem Informationsbedarf dadurch Rechnung getragen, dass er grundsätzlich berechtigt ist, Auskünfte über den Bewerber bei Dritten einzuholen. Der Bewerber ist verpflichtet, die für die Auswahl erforderlichen und geforderten persönlichen Angaben wahrheitsgemäss zu machen. Der Bewerber muss die Fragen des Arbeitgebers beantworten (Auskunftspflicht) und ihm spontan bestimmte Informationen zur Verfügung stellen (Offenlegungspflicht). Der Bewerber ist im Rahmen seiner Auskunftspflicht verpflichtet, Fragen, die in direktem Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz und der auszuführenden Arbeit stehen, wahrheitsgemäss zu beantworten, wenn die verlangten Informationen von direktem objektivem Interesse für das Arbeitsverhältnis sind. Dies wird anhand der voraussichtlichen Dauer des Arbeitsverhältnisses, der auszuführenden Aufgaben, der Art des Unternehmens und der zukünftigen Stellung des Arbeitnehmers beurteilt.

Unabhängig von der zu besetzenden Stelle muss der Arbeitnehmer im Rahmen seiner Offenbarungspflicht von sich aus alles mitteilen, was ihn als (absolut) ungeeignet für die Besetzung dieser Stelle erscheinen lässt und was die vertragsgemäss Erbringung der Arbeitsleistung praktisch ausschliesst oder erheblich behindert.

Das Bundesgericht hielt fest, es müsse in jedem konkreten Fall unter Berücksichtigung der besonderen Umstände geprüft werden, ob der Schutz der Persönlichkeit des Bewerbers die Interessen des Arbeitgebers auf Information überwiege.

Gesundheitsdaten gehören zu den besonders schützenswerten Personendaten. Wenn das Anstellungsverfahren eine Untersuchung durch einen Arzt beinhaltet, dürfen dem Arbeitgeber nur die Schlussfolgerungen über die Eignung für die vorgesehene Arbeit mitgeteilt werden. Das Arztgeheimnis und der Schutz der Persönlichkeit des Arbeitnehmers verhindern die Mitteilung einer ärztlichen Diagnose. Bei einer unzulässigen Frage, die gegen den Persönlichkeitsschutz, den Datenschutz oder das Diskriminierungsverbot verstösst, ist der Arbeitnehmer nach überwiegender Lehre berechtigt, unrichtig zu antworten (sog. Notwehrrecht der Lüge).

Die bundesgerichtliche Beurteilung des konkreten Falls

  1. Sachlich hinreichende Kündigungsgründe?

Das Bundesgericht erwog, die betreffende Stelle als SBB-Kundenbetreuerin gehöre unbestrittenermassen zu den sicherheitsrelevanten Berufstätigkeiten im Eisenbahnverkehr und unterstehe deshalb einem medizinischen Eignungstest. Es könne der Arbeitnehmerin zwar vorgeworfen werden, dass sie ihre Gesundheitsbeeinträchtigung im Fragebogen nicht erwähnt habe. Allerdings habe die Gehbehinderung nachweislich keine Auswirkungen auf ihre Arbeitsfähigkeit gehabt und auch keine medizinische Behandlung notwendig gemacht. Der Arbeitnehmerin könne keine Verletzung wichtiger gesetzlicher oder vertraglicher Pflichten (Art. 10 Abs. 3 lit. a BPG und Art. 173 Abs. 1 lit. a GAV SBB 2019) vorgeworfen werden.

Das Bundesgericht kam in der Folge zum Schluss, dass vorliegend keine objektiv hinreichenden Gründe für die Auflösung des Dienstverhältnisses nach dem Bundespersonalgesetz vorliegen würden. Das Bundesgericht führte aus, das Verhalten der Arbeitnehmerin sei nicht geeignet gewesen, das Vertrauensverhältnis zwischen ihr und der Arbeitgeberin unwiderruflich zu zerstören.

  1. Missbräuchliche Kündigung?

Nachdem das Bundesgericht festgestellt hat, dass die Kündigung nicht auf sachlich hinreichenden Gründen im Sinne von Art. 10 Abs. 3 BPG beruhte, hatte das Bundesgericht die Frage zu prüfen, ob die Kündigung allenfalls als missbräuchlich im Sinne von Art. 336 OR zu qualifizieren war. Das Bundesgericht hielt fest, dass die aufgrund einer Gesundheitsbeeinträchtigung ausgesprochene Kündigung nicht missbräuchlich sei, wenn die Gesundheitsbeeinträchtigung die Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmenden beeinträchtige. Missbräuchlichkeit liege nur vor, wenn die Arbeitsunfähigkeit auf eine Pflichtverletzung seitens der Arbeitgeberin zurückzuführen sei.

Selbst wenn die Kündigung aufgrund des Gesundheitszustands und des erhöhten Invaliditätsrisikos der Arbeitnehmerin erfolgt sein sollte, sei diese gemäss Bundesgericht nicht missbräuchlich.

  1. Fazit

Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Kündigung zwar nicht missbräuchlich sei, die Arbeitnehmerin aber ohne sachlich hinreichenden Gründe entlassen wurde. Aus diesem Grund hatte die Arbeitnehmerin Anspruch auf eine Entschädigung.