Glosse. Fabian Schambron spürt der Art und Weise nach, in der wir über den Staat und unser Verhältnis zu ihm nachdenken. Die oftmals körperbezogenen Bilder, die wir dabei benützen, haben aber wie alles Sprachliche ein gewisses Eigenleben und lassen, richtig gewendet, tief blicken in die aktuelle Anatomie des Gebildes, in dem wir arbeiten.
Seit es den Staat gibt, wimmelt es in ihm und um ihn herum von Sprachbildern, die ihn zu erklären suchen. Je komplexer seine Funktionsweise nämlich ist, desto lebensferner und abstrakter wirkt er auf die meisten Menschen, deren Leben er ja doch immerhin ein Stück weit ordnet. Abhilfe schaffen hier Metaphern, so lebensnah als möglich, und was ist den Menschen näher, als ihr eigener Körper, der sie trägt und an dem sie sich manchmal freuen, wenn er sie nicht gerade irgendwo zwickt?
Es überrascht daher wenig, dass beispielsweise auf der Titelseite von Thomas Hobbes‘ politischem Traktat Leviathan von 1651 ein aus vielen Leibern zusammengesetzter Staatskörper zu sehen ist, auf dessen Haupt die damals obligate Krone ruht. Noch weiter zurück, im alten Rom, findet sich bei Livius die Fabel von Menenius Agrippa, mit deren Hilfe dieser angeblich die verärgert ausgezogenen Plebejer in die Stadtgrenzen Roms zurücklockte. Agrippa verglich die regierenden Patrizier mit dem Magen der Stadt, der das ihm zugeführte Essen brauche, um die Glieder zu steuern und zu nähren. Mit dem Auszug und Fütterungsstopp schnitt sich der Restkörper folglich ins sprichwörtliche eigene, bald müde und hungrige Fleisch. So wurde Rom – oder zumindest Roms Oberschicht – durch ein Sprachspiel gerettet.
Nehmen wir solche Spiele einmal ernst. Die Nahrungsverteilzentrale liegt im Magen, dessen Bedürfnisse und nährstofflichen Belohnungen die Extremitäten steuern. Diese wären heute der öffentliche Dienst und indirekt die Steuerzahlenden, die den Staatsleib füttern helfen, wobei der Magen nach moderner Anatomie zusätzlich vom Hirn abhängt. So gesehen kann sich der Staatskörper mit einem gesunden Leib und einem auch nur einigermassen funktionstüchtigen Hirn selbstgesteuert füttern und erhalten.
Es ist wohl von Vorteil, dass der moderne Staatskörper ein Hirn hat. Wie die Erfahrung jedoch täglich lehrt, garantiert ein Hirn durch sein blosses Vorhandensein keine Intelligenz. Angenommen, das Hirn hält es in einer Umkehrung von Agrippas Fabel für ratsam, den Rest des Körpers gleichsam vor die Tore Roms zu stellen: «Die Zehen braucht eigentlich niemand und Haut oder Haare auch nicht, es ist ja Sommer», mag das Hirn sich sagen. «Die linke Hand tut zwar, als wäre sie wichtig, hat aber mehr Ferien als der ganze restliche Körper und verdient ohnehin zu viel. Und der Magen verwaltet ja nur, da kann man den Gürtel enger schnallen.» Und so weiter bis zu jenem Tag, an dem sich das Hirn vor lauter eigener Schläue zu fragen beginnt, ob denn Herz und Halsschlagader in ihrer Vermessenheit glauben, sie seien unentbehrlich.