Die jüngste Ausgabe der Taschenstatistik über die Gleichstellung von Frau und Mann, welche das Bundesamt für Statistik diesen Frühsommer herausgegeben hat, trägt die Kernaussage zum aktuellen Stand der Geschlechtergleichstellung bereits im Titel: «Auf dem Weg zur Gleichstellung von Frau und Mann». Das lässt erahnen, dass dieser Weg in der Realität auch nach Jahrzehnten des Ringens und Kämpfens noch auf unbestimmte Zeit andauernd wird – und dies, obwohl rechtlich viel erreicht wurde. Immerhin gibt es in manchen Bereichen Erfolge zu vermelden. Bei anderen Handlungsfeldern indes stagniert die Entwicklung oder ist gar rückläufig. Anlass genug, die Fortschritte und Baustellen der Geschlechtergleichstellung in einer kurzen Übersicht zu thematisieren.
Der Sommer hat es überaus deutlich gemacht: Am diesjährigen Frauenstreik gingen schweizweit mehrere Hunderttausend Frauen und auch solidarische Männer auf die Strasse, um der Forderung nach Gleichstellung der Geschlechter Ausdruck zu verleihen. Es war die grösste politische Demonstration in der jüngeren Geschichte der Schweiz – und sie war ein klares Zeichen, dass es bei der Gleichstellung der Frauen in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft endlich vorwärtsgehen muss. Die Forderungen sind vielfältig, sie betreffen Lebens- und Arbeitsbedingungen gleichermassen und werden von allen Generationen, auffallend auch von einer Vielzahl junger Frauen, mitgetragen.
Zwar hat sich bezüglich Gleichberechtigung in den letzten Jahren einiges verbessert, doch Tempo und Umfang dieser Entwicklung sind ungenügend. Dies bestätigte sogar die neue Studie des Weltwirtschaftsforums (WEF, The Global Gender Gap Report 2018), gemäss der die Schweiz in puncto Gleichstellung der Geschlechter im internationalen Vergleich nur gerademal an 20. Stelle liegt. Die Studie schätzt, dass es bis zur Schliessung der Lücke zwischen den Geschlechtern nach den derzeitigen Entwicklungen global noch über 100 Jahre dauern wird. Solange wollen die Frauen in der Schweiz – 38 Jahre nach der Verankerung der Gleichstellung von Frau und Mann in der schweizerischen Bundesverfassung – indes nicht mehr warten. Mit dem nahen Herbst haben es die Politik und die Wirtschaft in der Hand, gleich bei zwei gewichtigen Themen, die Frauen und Männern im Berufs- und Familienleben dieselben Chancen einräumen sollen, mit konkreten Massnahmen ein Zeichen für die Gleichstellung zu setzen. Die Rede ist von den Lohnverhandlungen sowie der Vaterschaftsurlaubs-Initiative bzw. dem Gegenvorschlag in der aktuellen Herbstsession.
Lohngleichheit ist weder erreicht noch greifbar nah
Der Grundsatz «Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit» ist mithin eine der zentralsten Forderungen in der Debatte um die Gleichstellung von Frau und Mann. Und sie liesse sich – einmal mehr – in diesem Herbst wie kaum eine andere rasch, wegweisend und symbolisch umsetzen. Gemäss den aktuellsten Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS, Neuchâtel 2019) verdienten Frauen 2016 im privaten Sektor durchschnittlich immerhin noch rund 20 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen, bezogen auf ein Vollzeitpensum. Dabei können ganze 42,9 Prozent dieser Lohndifferenz nicht mit objektiven Kriterien wie etwa Bildung, Dienstalter oder Führungsniveau erklärt werden. Im öffentlichen Sektor fiel dieser sogenannte unerklärte Anteil mit 34,8 Prozent etwas tiefer aus. Betrachtet man anstatt des Durchschnitts (arithmetisches Mittel) den Median (Zentralwert), der starke Ausreisser wie hier beispielsweise sehr hohe Löhne besser berücksichtigt und damit ausbalanciert, entspricht die Lohndifferenz zwischen Frau und Mann im Privatsektor immer noch 14,6 Prozent und im öffentlichen Sektor 12,5 Prozent. Der unerklärte Anteil der Lohnungleichheit macht bei dieser Art statistischer Betrachtung noch 8,4 Prozent aus.
Die naheliegende Erklärung für derlei Unterschiede ist Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. An der Ausbildung kann es jedenfalls nicht liegen, haben Frauen diesbezüglich stark aufgeholt – heute weisen junge Frauen im Vergleich zu gleichaltrigen Männern ein ebenso gutes oder gar höheres Bildungsniveau auf. Konservativen Thesen gemäss sind die Lohnunterschiede allerdings nicht diskriminierenden Arbeitgebern geschuldet, sondern rühren von der Rollenverteilung im klassischen Familiengefüge her. Demnach kümmern sich Frauen hauptverantwortlich um die Familie, während Männer nach der Geburt eines Kindes weiterhin vollzeitig der Erwerbsarbeit nachgehen; letztlich führe dies zu entsprechenden Unterbrüchen in der Erwerbsarbeit, weniger Berufserfahrung und zu Teilzeitanstellungen seitens der Frauen bzw. Mütter, was der Grund für das Lohngefälle sei.
Unterschiede sind nicht akzeptabel
Dem widerspricht eine aktuelle Studie um den Soziologieprofessor Daniel Oesch von der Universität Lausanne klar (Social Change in Switzerland N°18, Juni 2019). Anhand von zwei idealen landesweiten Datensätzen, der Jugendbefragung Tree und der Absolventenuntersuchung der Hochschulen, untersuchten die Forscher die Lohnsituation von jungen kinderlosen Erwachsenen im Alter von bis zu 30 Jahren. Entsprechend dem oben angeführten Argument konservativer Kreise müssten diese jungen Frauen und Männer ohne Familienverpflichtung und bei gleicher Qualifikation und vergleichbaren Berufen und Fachbereichen für dieselbe Arbeit dieselben Löhne erhalten. Dem ist jedoch nicht so. Und dies, obwohl das Forschungsteam mögliche relevante Unterschiede bei den Geschlechtern wie Schulleistung und Erwerbserfahrung berücksichtigt hatte. Die Resultate zeigen, dass die Frauen in beiden Datensätzen 4 bis 5 Prozent weniger verdienen als die Männer. Der Schluss der Forschenden fällt eindeutig aus: Die Lohnschere öffnet sich bereits beim Einstieg in den Arbeitsmarkt, der unerklärte Lohnunterschied beginnt nicht erst mit der Mutterschaft.
Auch das Bundesamt für Statistik hält fest, dass selbst bei gleicher Bildung und gleichem Kompetenzniveau der Lohn der Frauen tiefer liegt als jener der Männer. Insbesondere im Tieflohnbereich, der stark geschlechtsabhängig ist, sind dringend Massnahmen und Verbesserungen gefordert. Nicht nur arbeiten in diesem Sektor bedeutend mehr Frauen, sondern auch das Lohngefälle fällt hier deutlich aus, will heissen, wesentlich mehr Frauen als Männer müssen sich mit einem tiefen Lohn arrangieren. So hatten im Jahr 2016 16,5 Prozent der Frauen einen Nettomonatslohn von CHF 4000.– oder weniger zur Verfügung, während es bei den Männern vergleichsweise nur 5,3 Prozent waren. Umgekehrt kamen 26,1 Prozent der Männer auf einen monatlichen Nettolohn von mehr als Fr. 8000.–, wohingegen nur 13,8 Prozent der Frauen ein solches Salär erreichten.