«Der Mann packte mich und schlug zu»

Interview mit Urs Stauffer, Präsident des Öffentlichen Personals Schweiz

Ein Dorfbewohner der Gemeinde Orpund war mit den Leistungen der Gemeindeverwaltung nicht zufrieden. Seine Unzufriedenheit demonstrierte er mit Drohbriefen an die Mitarbeitenden der Gemeindeverwaltung, zerstörten Briefkästen und damit, dass er sein eigenes Blut an die Fassade des Gebäudes schmierte. Auch Urs Stauffer, Präsident von Öffentliches Personal Schweiz, musste sich als Leiter des Bieler Steueramts mit Wutbürgern auseinandersetzen. Wirtschaftlich schlechte Zeiten begünstigen seiner Ansicht nach Vorfälle wie jenen in Orpund.

Urs Stauffer, wie erleben Sie Gewalt gegen Angestellte im öffentlichen Dienst in den letzten Jahren?
Urs Stauffer: In der Regel kommen böse Mails, deren Tonalität man als verbal entgleist bezeichnen kann. Das geht bisweilen bis zu Drohungen. Physische Gewalt ist dagegen eher selten. Der Kontakt zur Bevölkerung ist zum grössten Teil angenehm. Etwa 20 Prozent der Bürgerinnen und Bürger können sehr unangenehm sein.

Sie haben über viele Jahre das Bieler Steueramt geleitet. Welche Erfahrungen machten Sie selbst mit verbaler und physischer Gewalt?
In dieser Zeit erlebte ich zwei tätliche Angriffe auf meine Person als Vollzugsbeamter. Das waren prägende Situationen. Darauf ist man nicht vorbereitet. Auch wenn man sich mental darauf einstellt, dass so etwas passieren könnte – wenn es physisch wird, nehmen solche Vorfälle andere Dimensionen an.

Was war geschehen?
Es ging um eine Steuerforderung vor ungefähr 30 Jahren. Zu dieser Zeit war Sicherheit von Arbeitnehmenden im öffentlichen Dienst noch kein Thema. Die Situation eskalierte, als der Steuerbürger eine Verwertungsankündigung seines selbstständigen Betriebs zugeschickt bekommen hatte. Er kam wutentbrannt an den Schalter der Steuerverwaltung. Der Zufall wollte es, dass ich gerade allein war – was heute nicht mehr vorkommt. Der Mann packte mich und schlug zu. Zum Glück kam dann ein Arbeitskollege in den Raum. Zu zweit konnten wir den Mann überwältigen. Ich kam mit einigen blauen Flecken davon.

Und das zweite Ereignis?
Das war etwa zehn Jahre später. Eine Frau griff mich an. Sie schlug mir mit einem Gegenstand ins Gesicht. Dass die Situation derart eskalierte, war für mich absolut nicht vorhersehbar.

Was haben diese Angriffe in Ihnen ausgelöst?
Klar war ich im ersten Moment schockiert. Danach habe ich das Ganze aber gut bewältigen können, physisch und mental. Man hat aber aus solchen Vorfällen Lehren gezogen. Im Gegensatz zu früher kann sich das öffentliche Personal heute mit Schulungen besser auf solche Situationen vorbereiten. Man lernt dabei zum Beispiel, wie man schwierige Gespräche deeskalierend führt. Das Verhalten von Angestellten im öffentlichen Dienst gegenüber Bürgerinnen und Bürgern hat sich generell geändert, ist viel professioneller geworden. Heute spricht man von Kundinnen und Kunden. Früher sah man sie als Bittsteller an. Ich bin klar der Meinung, dass Verwaltungsangestellte eine Schulung durchlaufen sollen. Dies vor allem auch aufgrund der kulturellen Durchmischung der Bevölkerung. Darauf nimmt man heute eher Rücksicht. Vorfälle wie in Orpund lassen sich aber nicht in jedem Fall verhindern.

Was für Situationen haben Sie sonst noch erlebt?
Einmal hat ein Mann eine Angestellte am Schalter massiv bedroht. Er sagte, er gehe jetzt nach Hause und komme mit seiner Waffe wieder. Danach würde niemand mehr in diesem Raum am Leben sein. Wir haben umgehend Anzeige bei der Kantonspolizei erstattet, worauf diese noch am selben Tag eine Fahndung auslöste und die Person in Untersuchungshaft nahm. Die Polizisten kamen dann mit dem Mann wieder an den Schalter. Dort konnte er dann erklären, warum er so reagiert hatte. Auch eine Bombendrohung am Schalter habe ich erlebt. Die Person sagte, sie jage den ganzen Laden in die Luft, das Material dazu habe sie zu Hause.

Sie vertreten als Präsident des Dachverbands öffentliches Personal auch andere Berufsgruppen wie die Polizei, Pflegefachleute, Lehrpersonen oder Angestellte im Strafvollzug. In welchem Mass sind diese von Gewalt und Drohungen betroffen?
Seit Corona ist gerade bei der Polizei eine grosse Steigerung festzustellen. Die Stimmung in der Bevölkerung ist viel aggressiver geworden. Die Akzeptanz der Staatsgewalt hat gelitten. Dem sind auch die Lehrpersonen immer stärker ausgesetzt. Sowohl vonseiten der Eltern als auch der Schülerinnen und Schüler. Der Respekt hat nachgelassen. Und zwar in dem Mass, dass manche Lehrpersonen ihren Job hinschmeissen. Dasselbe Bild zeigt sich in Spitälern und Alterseinrichtungen. Dies drückt sich in Aggressionen von Patienten und Angehörigen gegenüber den Pflegenden aus – auch in Form von physischen Angriffen.

Wo orten Sie die Gründe dafür?
In meinen Augen hat es auch mit dem Personalmangel in diesen Bereichen zu tun. Man hat die nötige Zeit nicht, um mit den Leuten zu reden und sich um sie zu kümmern. Vielen Bürgerinnen und Bürgern fehlt das Verständnis dafür. In meiner letzten aktiven Phase als Steuerverwalter haben zudem neue Gruppierungen wie die Reichsbürgerszene mit einer neuen Form von Bedrohung auf sich aufmerksam gemacht.

Wie zeigt sich das?
Diese Menschen akzeptieren den Staat nicht mehr. Sie sehen sich als freie Bürger der Welt und fühlen sich nicht verpflichtet, dem Kanton Steuern zu bezahlen. Das tönt dann etwa so: Beweisen Sie mir, dass es den Kanton Bern überhaupt gibt. Ohne dass man der Steuerforderung eine Kopie der Gründungsurkunde des Kantons Bern beilege, zahle man keine Steuern. Diese Mentalität hat sich seit Corona ausgebreitet. Das höre ich von Steuerverwaltungen aus der ganzen Schweiz.

Wie reagieren die Steuerbehörden in solchen Fällen?
In der Regel ignoriert man nach einigen Mails den Schriftverkehr. Diesen Leuten etwas erklären zu wollen, hat keinen Zweck. Die meisten zahlen am Schluss dann doch. Bei einigen wird das gesetzliche Inkasso über ein Rechtsöffnungsverfahren ausgelöst. Das heisst, Pfändung des Lohns oder von Wertsachen. Es geht ein Zahlungsbefehl hinaus. Dieser wird vom kantonalen Betreibungsamt persönlich überbracht. Vor jenen Beamten habe ich grossen Respekt. Denn als Überbringer einer schlechten Botschaft sind besonders sie unangenehmen Situationen ausgesetzt.
Können sie ihre staatliche Forderung nicht durchsetzen, kommt die Polizei ins Spiel. Reichsbürger, säumige Steuerzahler – was für Menschen machen dem öffentlichen Personal sonst noch zu schaffen?
Unzufriedene Bürgerinnen und Bürger gibt es in allen Sektoren. Einer ärgert sich über ein abgewiesenes Baugesuch, ein anderer fühlt sich durch den Hund des Nachbarn gestört und fordert bei der Gemeinde sein vermeintliches Recht ein. Manche können mit solchen Situationen nicht umgehen und ticken aus. So wie jene Person in Orpund. Man muss sich das nicht einfach gefallen lassen, soll und muss handeln, indem man die Angestellten schützt. Zu meiner Zeit gab es einmal eine Morddrohung gegen eine Beamtin. Da haben wir einen Wachdienst aufgeboten. Bei bedrohlichen Situationen mit Waffen stand auch schon mal die Kantonspolizei Wache. Das kommt schweizweit relativ häufig vor. Aber nicht jeder Vorfall kommt in die Presse.

Was schürt aus Ihrer Sicht Unzufriedenheit?
Wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert und die Leute zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten geraten, bekommen dies die öffentlich Bediensteten zu spüren. Das war nach der Bankenkrise der Fall und ich gehe davon aus, dass dies bei den derzeit steigenden Energiekosten, Krankenkassenprämien und Mietpreisen wieder auf uns zukommen wird. Die Kaufkraft sinkt, aber die Steuern bleiben gleich hoch. Die wirtschaftliche Situation ist der Taktgeber für das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger gegenüber öffentlichen Forderungen.

Interview: Brigitte Jeckelmann

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