Was uns verbindet

Sozialer Kitt

Viel Sozialkapital dank Vereinen

Wie kaum in einem Land schaffen unsere direktdemokratischen Rituale eine gemeinsame Identität und fördern den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Politologe Markus Freitag von der Universität Bern hat den Begriff «Sozialkapital» in der Schweiz untersucht. Er ist ein Mass für das Vertrauen in Mitmenschen, aber auch in Behörden und Institutionen. Gemäss Untersuchungen ist das Sozialkapital in der Schweizer Bevölkerung besonders hoch, im Vergleich mit anderen Ländern Europas rangiert die Schweiz in den vordersten Rängen.

Ein massgebender Grund ist laut Freitag die hohe Zahl von Vereinen und ihre Popularität. Jeder und jede ist hierzulande mindestens Mitglied in einem Verein, in ländlichen Regionen deutlich mehr. In den Vereinen entwickelt man Gemeinschaftsgefühl und lernt, nicht nur an sich selbst zu denken, sondern an das Kollektiv. Sie sind Schulen der Demokratie. Ebenso ist die Freiwilligenarbeit – auch ein Element des Sozialkapitals – in der Schweiz besonders ausgeprägt. Das hohe Sozialkapital hierzulande korreliert mit dem grossen Vertrauen in die Behörden. Sie ist eine Erklärung dafür, wieso die harten Bestimmungen während der Pandemie erstaunlich diszipliniert eingehalten wurden. Laut Studien befolgten die Leute die strikten Ausgangsregeln zu über 90 Prozent.

Trotz der hohen Integrationsfähigkeit der direkten Demokratie zeigen sich im sozialen Gefüge auch Risse. Die letzte Abstimmung zum Covid-19-Gesetz, die nur hierzulande möglich war, hat die Pro- und Contra-Lager ausserordentlich stark polarisiert und emotionalisiert, wie Nachanalysen bestätigten. «Diese Polarisierung macht mir schon Sorgen», sagt Daniel Kübler. Das unterlegene Contra-Lager habe mit 38 Prozent der Stimmen ein grosses Gewicht und werde so rasch nicht verstummen. Als weiterer Faktor kommt die wachsende Bedeutung der sozialen Medien hinzu, die auf Emotionen und polarisierende Argumente bauen. Gemäss Vox-Analysen hat sich das Contra-Lager stärker als das Pro-Lager von Beiträgen auf Social Media beeinflussen lassen.

Die Vox-Analyse bestätigt, was der Forscher Karsten Donnay feststellt: «Minderheiten können sich auf den Kanälen von sozialen Medien überproportional viel Gehör verschaffen», sagt der Assistenzprofessor für Political Behavior and Digital Media der UZH. Oft sind es nur wenige Wortführer, die extreme Aussagen veröffentlichen, aber sie erzielen mit ihren Posts beträchtliche Reichweiten.

Die Leute steigen online leichter auf solche Aussagen ein und verbreiten sie weiter. Im Fall der Corona-Massnahmen-Gegner konnte man dies auch in der Schweiz beobachten. «Ich denke, dass man diesen Verstärkungseffekt der sozialen Medien kritisch beobachten muss», sagt Donnay. Vor allem dann, wenn emotional geführte Diskussionen eskalieren und Leute mit Hassreden eingedeckt werden. Die verbale Verunglimpfung von Personen kommt leider auch hierzulande immer wieder vor, gerade im Zusammenhang mit Covid-19. «Solche Drohungen und Hass- reden sind nicht akzeptabel», betont Donnay, «die darf man so nicht stehen lassen.»

Moderate Meinungen gehen unter

Emotionale Diskurse müssen nicht a priori schlecht sein. Aufmunternde Katzenbilder und gefühlsbetonte Alltagsbemerkungen schaden ja niemandem. Im politischen Diskurs hingegen werden aufgeheizte Statements rasch heikel und vergiften unsere Konsenskultur. Dabei ist die Emotionalität eingebaut in das Funktionsprinzip der sozialen Medien. Die Algorithmen spülen die affektiven und polarisierenden Aussagen gezielt an die oberste Stelle der Feeds, das heisst der digitalen Aufmacherseiten. Das führt einerseits dazu, dass sich Leute mit differenzierenden Äusserungen zurückhalten, weil ihr Engagement wenig Beachtung erhält. Andererseits verstärken sich die emotionalen Äusserungen gegenseitig und damit die Polarisierung. «Die Wortführer vertreten häufig extremere Standpunkte, die Moderaten kommen nicht zur Geltung», sagt Karsten Donnay.

Eine wichtige Frage, die Politologen beim Thema soziale Medien umtreibt, ist die der Segmentierung. Führen die digitalen Informationsgefässe zu einer stärkeren Zersplitterung der Information und dazu, dass sich die Leute zunehmend in den eigenen Echokammern vom Mainstream absetzen? Karsten Donnay relativiert dieses Phänomen, wobei empirische Studien aus der Schweiz dazu fehlten. Untersuchungen in den USA hätten aber gezeigt, dass der Trend hin zu Echokammern nicht so gross sei wie befürchtet. Dennoch sind Echokammern ein Problem, wie zum Beispiel die rechtsgerichtete Facebook-Seite «Like Schweiz» zeigt, die vom Digital Democracy Lab der UZH untersucht wurde.

Wer hinter der Seite steht, die im Mai 2020 erstellt wurde, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass sie die politische Debatte mit rechtsgerichteten Statements emotional auflädt. Mit unzimperlichen Aussagen gegen Islamisten, Bettler, Europa, Corona-Massnahmen etc. und Videos auf Youtube bedient die Seite ihre User und macht Abstimmungskampf der aggressiveren Sorte. Diese Art von Seiten sei problematisch, sagt Donnay, weil sie Leute radikalisieren kann. Wie man in den USA beim Sturm auf das Capitol gesehen habe, kann sich die verbale Gewalt in physische Handlungen übersetzen. Von solchen Szenarien sind wir in der Schweiz weit entfernt. Eine Gefahr für den sozialen Kitt sieht der Politikwissenschafter durch soziale Medien in der Schweiz nicht, zumindest noch nicht. «Es braucht viel, um die stark verankerte direkte Demokratie zu destabilisieren», sagt Donnay.

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