Wir sind miteinander verstrickt – in der Familie, unter Freunden und in der Gesellschaft. Manchmal wird das Zusammenleben auf die Probe gestellt wie in der Corona-Pandemie. Was verbindet uns und wie können wir angeschlagene Beziehungen kitten?
Die direkte Demokratie fördert den sozialen Zusammenhalt und nimmt Oppositionsbewegungen den Wind aus den Segeln, das hat sich auch in der Corona-Krise gezeigt. Soziale Medien hingegen bringen Unruhe ins System. Im November 2018 brannte Frankreich. Die «Gilets jaunes» besetzten landauf, landab Verkehrskreisel und heizten dem Establishment ein. In Paris bot die Avenue des Champs-Élysées ein Bild der Verwüstung. Zu Zehntausenden waren die Anhänger der Gelbwesten von der Provinz ins Zentrum der Macht gepilgert und lieferten sich wüste Auseinandersetzungen mit der Polizei. Im ganzen Land gingen Hunderttausende auf die Strasse und empörten sich über höhere Treibstoffpreise. Gefordert wurden die Rücknahme der Beschlüsse und der Rücktritt von Emanuel Macron. Der Präsident lenkte schliesslich ein und nahm die Massnahmen zurück.
Und bei uns in der Schweiz? Im letzten Sommer lehnte das Volk das CO2-Gesetz mit 51,6 Prozent ab und verschaffte dem Parlament und der Umweltministerin Simonetta Sommaruga eine unerwartete Niederlage. «Die Parallele zur Konstellation in Frankreich ist offensichtlich», sagt Daniel Kübler, Professor für Demokratieforschung an der Universität Zürich. In beiden Fällen ging es unter anderem um Treibstoffpreise und Massnahmen gegen den Klimawandel. «Aber während man in Frankreich einen Staatsstreich befürchten musste, konnten die Leute in der Schweiz ihrem Missfallen an der Urne Ausdruck verleihen», sagt Kübler.
Demokratietest Covid-19
Die politische Auseinandersetzung um das CO2-Gesetz ist ein Paradebeispiel für die Funktionsweise der direkten Demokratie. Während andernorts der Volkszorn zu Unruhen führt, mässigt die Konsensdemokratie die Extreme und fördert den Zusammenhalt, den sozialen Kitt. «Unser System integriert die Opposition und entradikalisiert sie», sagt Kübler.
Bereits das Bundesratsgremium ist auf Konsens angelegt und versucht, mehrheitsfähige Beschlüsse zu fällen. Politische Entscheide werden durch Vernehmlassungen in Parteien und Verbänden breit abgestützt. Die Kantone werden einbezogen. Alle können sich äussern, und sollte eine Gruppierung doch nicht zufrieden sein, steht es ihr immer frei, mit einem Referendum dagegen anzutreten. So wie im Fall des CO2-Gesetzes, das von einer rechtsbürgerlichen Allianz ergriffen wurde. Wie stark dieses System ist, zeigt sich aktuell während der grössten Herausforderung der Demokratie der letzten Jahre, der Covid-19-Pandemie. Zwar gab es zu Beginn des Jahrhundertereignisses im Frühling 2020 eine kurze Phase, während der die Regierung via Notrecht regierte und ohne parlamentarische Beratung massive Eingriffe erliess. Aber diese ausserordentliche Lage währte nur wenige Wochen und wurde so rasch wie möglich wieder aufgehoben. Seither funktioniert unser politisches System wieder wie geölt und zeitigt bemerkenswerte Ergebnisse.
«Ich kann es nicht genug betonen», sagt Daniel Kübler, «wir sind das einzige Land weltweit, in dem die Bürgerinnen und Bürger über Massnahmen gegen Covid-19 abstimmen konnten.» Ein erstes Mal Mitte Juni 2021, ein zweites Mal wenige Monate danach Ende November. Mit einer rekordverdächtigen Stimmbeteiligung von 65,7 Prozent stellten sich 62 Prozent der Stimmberechtigten hinter das Covid-19-Gesetz und hiessen damit auch das Covid-Zertifikat gut, das für besonders hohe Emotionen sorgte. Im Nachgang zeigte sich, dass praktisch alle Altersgruppen für das Gesetz stimmten. «Der klare Entscheid zugunsten des Bundesrats und des Parlaments hat Teilen der Opposition den Wind aus den Segeln genommen», sagt Politologe Kübler.
Diesen Lackmustest einer Volksabstimmung müssen Oppositionsbewegungen in anderen Ländern seltener bestehen. Es erstaunt daher nicht, dass sich Teile des Referendumskomitees wie die «Freunde der Verfassung» nach der Abstimmung zerstritten und wichtige Köpfe von der Bildfläche verschwanden. Der Opposition fällt es schwer, sich nach einer Niederlage zu legitimieren. Der Protest verpufft.
Blickt man etwas weiter zurück, finden sich schnell weitere Beispiele von Bewegungen, die sich anfangs auf der Strasse formierten und sich nach und nach mit den staatlichen Institutionen arrangierten und entradikalisierten: die Friedens- und Anti-AKW-Bewegung in den 1970er-Jahren oder die Jugendbewegungen der 1980er und 1990er-Jahre. Zwar waren die Bewegungen unterschiedlich erfolgreich, aber in keinem Fall radikalisierten sich die Anhänger. Eben auch, weil das direktdemokratische System den Protest in institutionalisierte Bahnen umlenkt und den demokratischen Mehrheitsentscheiden unterwirft. «Volksentscheide haben eine gewaltige Kraft», sagt Daniel Kübler. Auch wenn sie knapp ausfallen, wird das Ergebnis akzeptiert. Dieses demokratische Selbstverständnis bestreiten selbst die grössten Kritiker und Kritikerinnen des Staates und der Institutionen nicht.