WELT AUS DEN FUGEN

Solidarität, diese wankelmütige Gefährtin

Und: Unsere Kooperation, unsere Solidarität beruht meist auf Reziprozität, auf Gegenseitigkeit: wie du mir, so ich dir. Dabei handelt es sich oft um langfristige, strategische Formen von Zusammenarbeit, in der Familie, am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft: Wenn ich heute meiner Kollegin helfe, wird sie das das nächste Mal für mich tun. Klar: Mit solidarischen, kooperativen Menschen lebt und arbeitet man lieber zusammen als mit Egoisten. Deshalb kann es sich lohnen, als solidarisch zu gelten.

Doch selbst wenn wir uns in den leuchtenden Farben des Altruismus präsentieren: Tief drin sind wir Rappenspalter, die sich genau überlegen, was sie geben und im Gegenzug dafür erhalten. «Die Forschung zeigt sehr gut, dass wir zwar sehr wohl bereit sind, mitzumachen, wenn das gefordert wird», sagt Rauhut, «doch gerne etwas weniger als die anderen.»

Dieser Mechanismus hat es in sich – er kann auch dazu führen, dass Solidarität rasch in sich zusammenfällt. Wenn wir beobachten, dass andere weniger tun und wir dann auch wieder etwas weniger tun.

Kontraproduktive Bussen

Was kann getan werden, um die Solidarität über längere Zeit aufrechtzuerhalten? Psychologe Ullrich und Soziologe Rauhut haben darauf zwei Antworten, die in die gleiche Richtung gehen:
«Es braucht Regeln, die für alle verbindlich sind», sagt Ullrich.

Und: «Strafen, oder die Androhung von Strafen, können helfen, alle bei der Stange zu halten», sagt Rauhut. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass Strafen auch kontraproduktiv sein können. Weil sie die intrinsische Motivation untergraben, das heisst unseren eigenen Antrieb, solidarisch zu sein. Aus der Forschung kennt man das Phänomen «a fine is a price», das bedeutet: Eine Busse ist der Preis, den man dafür bezahlen muss, dass man sich nicht an die Regeln hält. Rauhut erzählt das Beispiel eines Kindergartens, wo die Kinder oft zu spät abgeholt wurden. Darauf wurden die verspäteten Eltern gebüsst. Das Ergebnis: Die Eltern kamen noch häufiger zu spät. Die Busse war für sie der Preis, den sie dafür bezahlen mussten, etwas länger im Büro zu bleiben. «Im Effekt war die Busse also kontraproduktiv. Sie hat das unerwünschte Verhalten noch verstärkt», sagt Rauhut.

Es will deshalb gut überlegt sein, wie Verstösse gegen das Solidaritätsgebot bestraft werden und wie hoch das Strafmass ausfällt. Deshalb sei es auch gut und richtig, wenn die Polizei zuerst das Gespräch suche mit jenen Leuten, die sich nicht an die Corona-Vorschriften halten, findet Rauhut. Das Gleiche gilt für die Kommunikation der Behörden in der Corona-Krise: Mit Appellen arbeiten, transparenten und rationalen Argumenten, die Bevölkerung mit an Bord und in die Verantwortung nehmen, sei der richtige Weg. «Das funktioniert in einer demokratischen Gesellschaft besser als rigide Verbote.»

Die Frage ist, ob von der doch beträchtlichen Solidarität, die wir in Zeiten von Corona an den Tag legen, etwas bleibt, wenn die Krise vorbei ist. «Vielleicht», so Johannes Ullrich, «haben wir ja tatsächlich etwas gelernt – dass wir ein gemeinsames Ziel erreichen können, wenn sich jeder zusammenreisst und vorübergehend auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse verzichtet.

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